WORDS:
Eva Mamlok 2023 (d+e), about: Ana Botezatu 2023 (e), Ana Botezatu — Hommage an Oda Schotmüller 2022, The Burdensome of Richness 2022 (e), Dumbo Tracks 2021, Drei Versuche zu Hendrik Krawen, der angebrochene Tag 2021 (d+e), Kleines Muskbrevier (Heinz Emigholz) 2021 (d+e), Gabriele Stötzer 2021, Anne Jud 2021, In Leder (Käthe Kruse) 2021, Sølyst — Spring 2021, Beschwerlicher Reichtum 2021, Winter 2 2021, Niklas Wandt — Balearische Bibliothek 2021.

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Eva Mamlok (Galerie Auslage)


Gespräch mit Wolfgang Kaleck zu Eva Mamlok | Vorstellung des Mamlok Portraits von Amber Cannings  | 20. Mai 2023, 17 Uhr

Über den Zeitraum eines Jahres widmet sich Galerie Auslage der Antifaschistin Eva Mamlok und ihrer Berliner Widerstandsgruppe jüdischer Frauen, die gegen das NS-Regime gekämpft hatten. Mamlok wurde 1933 als Vierzehnjährige verhaftet, nachdem sie »Nieder mit Hitler!« auf das Dach eines Kaufhauses geschrieben hatte. Von da an war sie politisch aktiv, und von da an stand sie im Visier der Gestapo. Nach weiteren Inhaftierungen und Verurteilungen zu Zwangsarbeit wurde sie 1944 ins Konzentrationslager Stutthof überführt, wo sie Achtundzwanzigjährig verstarb.

Unser Programm wird sich aus diversen Richtungen ihrer Person und ihrem Wirken annähern. In Ausstellungsprojekten, Vorträgen und Performances möchten wir Eva Mamloks Sichtbarkeit erhöhen, ihre Person und ihre antifaschistische Aktivität lebendig halten und untersuchen, wo und wie wir daran anknüpfen können.

In Anlehnung an unsere Ausstellungsreihe Der beschwerliche Reichtum laden wir dabei auch zeitgenössische Künstler_innen ein, sich mit Eva Mamlok auseinanderzusetzen. Als erste Position präsentierte im November 2022 Ainize Sarasola ihre T-Shirt Edition zu Mamlok.

Am 20 Mai wird Wolfgang Kaleck, Menschenrechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), über seine Recherchen zu Eva Mamlok sprechen. Kaleck hatte in Argentinien durch seine Freundschaft zu Pieter Siemsen, Eva Mamloks ehemaligem Partner, von ihr erfahren und dann 2011 die Verlegung ihres Stolpersteins in der Neuenburger Straße initiiert.

Im Fensterraum der Galerie Auslage wird die Künstlerin Amber Cannings ihr Portrait von Eva Mamlok zeigen. In Wales aufgewachsen und gegenwärtig in Berlin lebend, setzt sich Cannings in ihrer Arbeit mit Erinnerung, persönlicher Erfahrung und Nostalgie auseinander, dabei scheint sie bewegte Situationen oder Emotionen mit einem nüchternen von außen betrachtenden Auge zu Momenthaftigkeit einzufrieren, zu abstrahieren und so zu überhöhen. In einer Malerei zwischen realistischer Abbildung und kontrastreicher, gestischer Expressivität, mit einer reduzierten Farbpalette von Graublau bis Hautfarbe portraitiert sie Mamlok vor einem Fensterkreuz in erhöhtem Ausblick auf einen urbanen Raum. Das Bild ist von kühler Anmutung, Mamlok blickt uns entschlossen an.

Over the course of a year, Galerie Auslage's program is dedicated to the anti-fascist Eva Mamlok and her Berlin resistance group of Jewish women who fought against the Nazi regime. Mamlok was arrested in 1933 at the age of fourteen after writing »Nieder mit Hitler!« (Down with Hitler!) on the roof of a department store. From then on she was politically active, and from then on she was targeted by the Gestapo. After several imprisonments and sentences to forced labour, she was transferred to the Stutthof concentration camp in 1944, where she died at the age of twenty-eight.

Our programme will approach her person and her work from various angles. In exhibition projects, lectures and performances, we would like to increase Eva Mamlok's visibility, keep her and her anti-fascist activities alive and examine where and how we can build on them.

Following on from our exhibition series Der beschwerliche Reichtum, we are also inviting contemporary artists to engage with Eva Mamlok. Ainize Sarasola was the first to present her T-shirt edition on Mamlok in November 2022.

On 20 May, Wolfgang Kaleck, human rights lawyer and Secretary General of the European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), will talk about his research on Eva Mamlok. Kaleck learnt about Mamlok in Argentina through his friendship with Pieter Siemsen, her former partner, and then initiated the laying of her Stolperstein in Berlin, Neuenburger Straße in 2011.

Artist Amber Cannings will be showing her portrait of Eva Mamlok in the window space of Galerie Auslage. Having grown up in Wales and currently living in Berlin, Cannings explores memory, personal experience and nostalgia in her work, in which she seems to freeze, abstract and thus exaggerate moving situations or emotions with a sober eye looking from the outside. In a painting between realistic depiction and high-contrast, gestural expressiveness, with a reduced colour palette ranging from grey-blue to skin tones, she portrays Mamlok in front of a window cross with an elevated view of an urban space. The picture has a cool appearance, Mamlok looks at us with determination.

(May 2023)

 


about: Ana Botezatu


Ana Botezatu, born in Braşov, Romania, is a Berlin-based artist who works primarily with drawing, ceramic art, book illustration, puppet theatre and stage design. Part of her practice is a kind of ethnographic research in which she examines vernacular arts, handicrafts, folk rites and rituals, but also narratives and fairy tales. Far from the nationalisms of a They-still-exist-the-good-old-things; but in fact, the tracking down of a social treasure that was shared, and passed on before a construct like The Nation forced its way in — before the State, the feudal, the capitalist, the pseudo-socialist, before the Big Corps. A social treasure which she then finds in Romanian recipes, Soviet children's books, Swiss carnival masks, as well as in Georgia O'Keefe's flower paintings. And Ana Botezatu places Handicrafts and Fine Art on an equal footing anyway.

Ana Botezatu had studied ceramics at the Art and Design University of Cluj-Napoca; a school, divided into an applied and a free art department — whereby in the latter, too, the applied-technical mastery of the medium counted for everything; a school with a curriculum characterised by machismo and heteronormativity; with an exclusively male professorate. Students in the free art department were expected to design small scale objects such as jewellery boxes; Ana Botezatu experimented with large formats: Object! tn order to create space and a voice for herself, at all. Ceramic sculptures, that she later — after graduation — destroyed. Eventually, they were not her owns. By the time she learned, by the time she understood that it was okay to work exactly the way you want to work. This became her a plea for the Minor Form.

Ana Botezatu works figuratively. A kind of narration pervades all her pieces, between melancholia and joyfulness, sometimes with an airy dark undertone.
Her brushstrokes are lively, her sculptures feel sketchily, her plays improvised. Her œuvre deludes the shallow observer with volatileness, where, as soon as one submits oneself to it, as soon as one immerses, dives into it, one discovers a most delicate, elaborate work of utmost accuracy.

(2023)

 


Ana Botezatu — Hommage an Oda Schotmüller (Galerie Auslage)


Galerie Auslage freut sich, Ana Botezatus Hommage an Oda Schottmüller zeigen zu können.
Eröffnet wird die Ausstellung am Freitag, den 26 August, um 18 Uhr.

Ana Botezatu nutzt die Rahmung und die leichte Raumtiefe eines der beiden Fenster der Galerie Auslage für ihre Arbeit in der Anmutung einer Bühnensituation. Ein Ensemble kleinformatiger Skulpturen inszeniert in flacher Hierarchie ein expressiv skurriles Spiel. Oda Schottmüller — abgelichtet bei einem ihrer Maskentänze — schließt den Raum nach hinten ab, umarmt die Szenerie und öffnet sie weit nach oben.

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Oda Schottmüller war Tänzerin und Bildhauerin. 1943 wurde sie vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und in Berlin hingerichtet.

1905 in Poznań geboren, hatte Oda Schottmüller in den 1920er Jahren die reformpädagogische Odenwaldschule besucht; ihr Wunsch, Bildhauerin und/oder Tänzerin zu werden, fand keine Unterstützung von ihren Eltern. Nach dem Abschluss einer Lehre in Goldschmiederei, Keramikkunst und Töpferei in Frankfurt am Main und Pforzheim, begann sie 1928, nun volljährig, die Ausbildung zur Tänzerin an der Berliner Schule von Vera Skoronel und Berthe Trümpy — zwei der wichtigsten Vertreterinnen des abstrakten expressiven Tanzes. Parallel dazu, ab 1929, nahm sie ein Studium der Bildhauerei im Verein der Berliner Künstlerinnen bei Milly Steger auf — später auch in Johannes Ittens Berliner Schule. Schottmüller arbeitete figurativ und schuf in dieser Zeit eine Reihe von Porträtplastiken. Mit ihren Arbeiten war sie regelmäßig in Ausstellungen vertreten.
1931, nach bestandener Prüfung in Gymnastik und Körperbildung, wurde sie als Tänzerin ins Ensemble der Berliner Volksbühne aufgenommen, ab 1934 trat sie auch als Solistin mit eigenen Programmen in Maskentänzen auf. Oda Schottmüller verband dabei ihre beiden Professionen, in dem sie expressive Kostüme und Holzmasken für ihre mythologischen Tanzcharaktere schuf. Sie entwickelte dramatische, meist tragische Tanzstücke, in denen sie allegorienhaft zeitgenössische gesellschaftliche Probleme und Fragen aufrief. Ihre Stücke hießen "Seltsame Stunde", "Hexe", "Zauberer", aber auch "Verhängnis", "Henker" oder "Der Gehenkte". Schottmüller tourte ausgiebig im In- wie im Ausland. Publikum und Kritik liebten ihre Arbeit. Im Laufe der 1930er Jahre wurden die mythologischen Wesen zu eher konkreten Figuren, die Struktur ihre Tänze änderte sich — 1938 hatte sie den Komponisten und Pianisten Kurt Schwaen kennengelernt, mit dem sie nun gemeinsam ihre Werke entwickelte, beispielsweise "Alraune", "Tragödie", oder "Engel der Empörung". Das Stück "Der Erdwächter" war eine Aufruf an die Verantwortung jedes Einzelnen zur Bewahrung des Friedens, "Der Letzte" von 1941 klagte den Tod im Krieg an.

Schottmüllers Choreographien waren ein Balanceakt zwischen dem, was sie sagen wollte und dem, was sie sagen konnte. 1933 mit dem Ende der Weimarer Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Adlof Hitler war der Ausdruckstanz, wie sie ihn praktizierte, verboten. Schottmüller hatte sich der Pflicht, sich als Tänzerin bei der Reichskulturkammer anzumelden, verweigert und vermochte es — trotz ihres Bekanntheitsgrades und obwohl sie Teil des Tanz-Ensembles im Rahmenprogramm der Olympischen Sommerspiele 1936 war — bis Herbst 1937 unter dem Radar der Nazibehörde zu bleiben. Dann, auf die Aufforderung zur Registrierung und zur Belegung eines Kurses in "Deutschem Tanz", reagierte sie, in dem sie Pressebesprechungen ihrer Aufführungen einreichte, was die Reichskulturkammer augenscheinlich akzeptierte. Im Februar 1938 wurde sie in die Volksbühne geladen zu einer Leistungsschau des "Deutschen Tanzes", sie maskierte sich doppelt: statt den "Engel der Empörung" tanzte sie den "Engel des Trostes", was vielleicht zuvor ein "Henker" war, hieß nun "Der Fremde", ihre Auswahl an Masken nannte sie "Die Deutsche Suite"; im Winter 1941/42 wurde sie im Auftrag der Wehrmacht als Tänzerin zur Truppenunterhaltung nach Frankreich und in die Niederlande geschickt.

1935 hatte Oda Schottmüller eine Beziehung zu dem Bildhauer Kurt Schumacher begonnen; sein Studio war Treffpunkt der Berliner Bohème geworden, wo frei über Kultur, Philosophie und Politik gesprochen werden konnte, aber auch konkrete Aktionen gegen die Nationalsozialisten geplant wurden. Darüber lernte sie die Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen kennen.

Am 16. September 1942 verhaftete die Gestapo Schottmüller als Teil einer Gruppe von über 120 Personen, mit der Behauptung, sie wären Teil der "Roten Kapelle", einer von der Sowjetunion geleiteten kommunistischen Untergrundorganisation; tatsächlich war "Rote Kapelle" ein Konstrukt der Gestapo, das so nicht existierte: die Verhafteten und rund 300 weitere WiderstandskämpferInnen agierten über ein loses Netzwerk verbunden in unabhängigen Zellen und gehörten einem breiten politischen Spektrum an, die der Kampf gegen den Nationalsozialismus einte.

Über Oda Schottmüllers Widerstandstätigkeit ist wenig bekannt. Verhörprotokolle der Gestapo oder der Polizei sind nicht erhalten geblieben; Mitstreiter und Mitstreiterinnen wurden von den Nazis ermordet. Was man weiss: sie nutze ihre Tourneen, ihre Fahrten zu Ausstellungen, ihre Arbeit im Fronttheater für Kurierdienste zwischen Widerstandsgruppen; was man vermutet: in ihrem Atelier sind Flugschriften kopiert worden. Was ihr von den Nazis vorgeworfen wurde: sie habe ihr Atelier für Funkkontakte nach Moskau zur Verfügung gestellt. Was ihr nicht nachgewiesen werden konnte. Dennoch wurde sie wegen "Beihilfe zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und Feindbegünstigung" vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt, und 5. August 1943 im Gefängnis Berlin-Plötzensee mit der Guillotine hingerichtet.

In Berlin erinnern ein Stolperstein auf der Reichsstraße, eine Plakette in der Volksbühne und eine Gedenktafel auf der Puschkinallee an sie.

P.S.: Der "Hauptankläger" der jungen Frau hat sich nach dem Krieg auf seine "Dienstpflicht" berufen, wurde von seinen Kollegen Richtern freigesprochen und hat, unbescholten, als Anwalt gewirkt und seine Pension verzehrt. (Rolf Michaelis, Freier Tanz? Im Gleichschritt marsch! ZEIT 38/1993)

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Ana Botezatu, in Braşov, Rumänien geboren, ist eine in Berlin lebende Künstlerin, die hauptsächlich mit Zeichnung, Keramikkunst, Buchillustration, Puppentheater und Bühnendesign arbeitet. Teil ihrer Praxis ist eine Art von ethnografischer Forschung, in der sie Volkskunst, Kunsthandwerk, volkstümliche Riten und Rituale, aber auch Erzählungen und Märchen untersucht. Fernab vom Nationalistischen eines Es-gebe-sie-noch-die-guten-alten-Dinge; vielmehr das Aufspüren eines sozialen Schatzes, der geteilt wurde, weitergegeben, bevor ein Konstrukt wie Die Nation hineindrängte — vor dem Staat, dem feudalen, dem kapitalistischen, dem pseudosozialistischen, vor den Big Corps — den sie dann in rumänischen Rezepten, sowjetischen Kinderbüchern, Schweizer Fasnachtsmasken ebenso findet wie in Georgia O'Keefes Blumenbildern. Und Kunsthandwerk und freie Kunst setzt Ana Botezatu sowieso gleichberechtigt nebeneinander.

Ana Botezatu hatte Keramik an der Art and Design University Cluj-Napoca studiert; eine Schule, aufgeteilt in eine angewandte und eine freie künstlerische Abteilung — wobei auch in letzterer die angewandt-technische Beherrschung des Mediums alles zählte; eine Schule, mit einem von Machismen und Heteronormativität geprägten Curriculum; mit ausschließlich männlicher Professorenschaft. Von den Studentinnen im freien künstlerischen Bereich wurde erwartet, dass sie kleine Objekte wie etwa Schmuckdöschen gestalten; Ana Botezatu experimentierte mit großen Formaten: Dagegensein! um sich so überhaupt Raum und Stimme zu verschaffen; Keramikskulpturen, die sie später — nach dem Studium — allesamt vernichtete — es waren nicht die ihren — als sie lernte, als sie verstand, dass es in Ordnung sei, genau so zu arbeiten, wie man arbeiten möchte. Daraus wurde ihr ein Plädoyer für die Kleine Form.

Ana Botezatu arbeitet figurativ, eine Art von Narration durchzieht all ihre Arbeiten, zwischen Melancholie und Freudigkeit, manchmal mit einem dunklen Unterton; ihr Pinselstrich ist beschwingt, ihre Skulpturen wirken wie Hingeworfen, das Theater scheint improvisiert. Ihr Werk spielt den flüchtig Betrachtenden eine Leichtigkeit vor, wo man, sobald man sich ihm aussetzt, in es hinein taucht, ein sensibles hochpräzises Arbeiten entdeckt.

(Juli 2022)

 


The Burdensome of Richness (Catalog)


Independent female and queer-female artists in Berlin erstwhile and now

For decades, Berlin was a symbol for the promise of an independent individualistic life shaped by artistic ambition.

Historically, Berlin is abound in female artists who have consistently pursued their work and working practise — some in the midst of the art scene, others on its fringes. Some were able to establish themselves on the international market, some opted to persist as keepers and forces of the sub- and counterculture, and some are all but slipped from memory.

Today, Berlin again attracts a new wave of female artists. It seems to be one of the few remaining spaces that offers chance and possibility for artists from places where creative and critical expression is hardly possible or only feasible to a limited extent, from places scant of perspectives for alternative female life plans.

Galerie Auslage's series The Burdensome Richness' commitment is to explore and investigate these timelines. Artists who have recently arrived in Berlin meet artists, who began their artistic careers here in previous times — on occasion of a series of exhibitions, screenings, talks and workshops.

The Burdensome Richness offers these artists a platform, and especially seeks to rediscover female perspectives of radical beauty that have been missed or — worse — disregarded. Galerie Auslage's goal is to reinvigorate a closed history, a call of attention to important artistic landmarks that yet have to be recognised as seminal in the world; to make the invisible visible; to start the conversation between these artists, between past, present and future. In the encounter of generations cracks and consistencies are explored, diverse artistic approaches and life designs presented, discussed and examined.

As a starting point the program focussed — alongside the new to Berlin artists — on female artists whose emphasis lie mainly in the fields of performance and film, and whose work practise started in the late 1970s/early 1980s. The (re)visualisation of this notably side of Berlin's (sub)culture is intended to be stimulus and inspiration — and by no means only to radiate from then to now.

Upcoming The Burdensome Richness will cast its gaze onto the Berlin of the 1920s: pursuing the concept of the Artist Bar which was famously executed by performance artist Valeska Gert, exploring the lives and works of dancer and sculptor Oda Schottmüller, and of the anti-fascist partisan Eva Mamlok.

(April 2022)

 


Dumbo Tracks (italic)


Jan Philipp Janzen ist vor allem als Schlagzeuger von Von Spar, Urlaub in Polen, Die Sterne und Cologne Tape bekannt. Mit Von Spar hatte er 2010 die Dumbo Studios Cologne aufgebaut, wo er als Techniker und Gastmusiker dann unter anderem mit Stephen Malmus, R. Stevie Moore oder The Field arbeitete.

Dumbo war der spöttische Spitzname, den ein animierter kleiner Elefant auf Grund der Größe seiner Ohren und einer damit verbundenen Tollpatschigkeit erhielt. Die Spötter übersahen dabei, dass auch ein kleiner Elefant bereits ein Elefant ist.
Um die Brücke ins Hier und Jetzt zu schlagen: auch in einem kleinen Studio kann man Großes produzieren, vor allem wenn, was die großen Ohren implizieren, es von einer Person mit ausserordentlichem Gehör betrieben wird.

Dumbo Tracks nennt Jan Philipp Janzen nun sein Solo-Projekt. Dafür hat er befreundete GastmusikerInnen eingeladen, meist am Gesang. Instrumental unterstützen ihn seine Von Spar Kollegen Christopher Marquez und Sebastian Blume.

In diversen Spielarten durchzieht Reggae alle Stücke des Albums. Vom Popreggae in "Letter From An Unknown Woman" mit den Gästen Roosevelt und Marker Starling bis zur dubbigen Ballade "Always Something" mit Indra Dunis am Gesang. "Everybody Knows" mit Markus Ammer ist eine schon beinahe klassisch zu nennende Dub-Produktion mit sich überlagernden und überschlagenden Delays und Echos. Die smoothe Stimme, die harmonische Gitarren- und Keyboardarbeit schneiden dabei eine etwaige Schärfe aus dem Stück. "Bordstein in der Nacht" mit Julian Knoth ist leicht aggressiver, und erinnert an das, was mit The Clash passiert ist, als sie auf jamaikanischen Rhythmen trafen und tanzbar wurden. "The corpse of a frozen flower" dann hat sich an durch den kleinen Raum wandernde Kammfilter des Dub-Techno der Berliner Schule infiziert, äussert langsam gedreht und mit der Stimme von Eiko Ishibashi verwandelt sich das Stück aber in einen verhuschten Augenblick von Schönheit.

Und das beschreibt seinen Ansatz bei Dumbo Tracks präzise. Jan Philipp Janzen geht nicht in die akustischen Extreme, es ist auch kein sezierend analytisches Untersuchen, das haben andere schon gemacht. Die Stücke setzen auf Reggae Rhythmen auf, er wendet Dub-Techniken an, nutzt seine ganze Erfahrung als Studiotechniker und stellt das alles gezielt in den Dienst einer entspannten Freundlichkeit.

Dumbo Tracks ist ein Popalbum. Jams und Riddims geben den Rahmen vor, in dem sich die einzelnen Stücke des Albums bewegen. Eine kluge, feine Produktion, die an den britischen New Pop Anfang der 1980er Jahre erinnert, als unabhängige Musiker*innen und Labels die Mainstream-Charts mit Leichtigkeit knacken konnten. Etwas Ähnliches könnte Jan Philipp Janzen mit Dumbo Tracks gelingen.

(Oktober 2021)

 


Drei Versuche zu Hendrik Krawen, der angebrochene Tag (Katalogbeitrag)



a. Die Dinge der Städte

        Der Wind ist maßgeblich, Masse. Scherben auf abgeriebenem Boden,
        die Stadt nur noch Übersicht, die nicht zählt.
(Sonja vom Brocke,
        statt Katastrophenfilm, in: Venice singt, Berlin 2015)

Der Ort ist egal. Erstmal egal und im Weiteren auch. Die Zeit ebenso. Fünf Uhr morgens, kurz nach dem Frühstück, auf dem Weg in die Fabrik, 1982 im Mittelalter. Spuren? Keine Spuren, nichts Übriges. Es geht immer um Konstruktion, und Bild ist nie Bild sondern immer Abbild. Aber nicht verschwommen, vage, sondern scharf. Mit präziser Kante, kein Vertun. Techniken werden kombiniert, Natur wird geschaffen, eingezäunt, abgegrenzt, beschriftet. Und natürlich ist alles immer natürlich, alles ist organischen Ursprungs. Es gibt keine Form ausserhalb der Formen, die es gibt. Und wir können nichts ausserhalb dessen denken, was wir denken können.

        Eine Frau ging durch den Zuggang, in den Fingern eine Babyflasche als Handgranate. Draußen lief
        ein Fasan an einem Buschsaum entlang. Am Horizont saß ein Mann auf einem Hausdach und fing ein
        ihm zugeworfenes Werkzeug auf
(Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main, 1983)

In Hendrik Krawens Malerei tummeln sich die Dinge der Städte. Schilder, Straßenmöblierungen, Türen, Nummern, Laternen, Parks. Sie haben Namen und Gesichter. Verkehren miteinander, sind im Gespräch miteinander. Mal schnattern sie geschwätzig, mal nicken sie sich verständnisvoll zu. Sie kennen keine Moral und haben keine Angst. Sie sind ohne Vergangenheit — zumindest wissen sie nicht um diese. Sie haben keine Erinnerung, Geschichte wie hochgeklappt; manche sind Artefakte, reliquienhaft, sie ahnen leise etwas, eher wie ein Hauch, eine Art von Tagtraum, wie wenn jemand Vertrautes einem in den Nacken atmet oder sanft ins Gesicht pustet. Sie sind jetzt, genau in diesem Moment, und das ist okay so, sie sind Okay damit. Mehr als das. Sie sind glücklich.

Aber Affekte und Stimmungen interessieren sie nicht wirklich.

        Auch heute ging ich wieder durch die erbärmlichen und deprimierenden Parkanlagen und fragte mich,
        warum ich gleich wieder in meine deprimierende, kleine Klause gehen werde und zusammenhängende
        Sätze schreiben werde, nur weil ich die heroisch unzusammenhängenden Bilder verloren habe, die ich
        wiederum offensichtlich nur deswegen verloren habe, weil ich die Maschine zerstört habe, die diese
        Bilder und ihr Unzusammenhängendes, in dem sie sie ständig bedrohte und anzweifelte, erst möglich
        gemacht hat.
(Diedrich Diederichsen, Herr Dietrichsen, Köln 1987)

Was nur ein Lasieren, ein Schaum, ein Hauch ist, was sie nicht ahnen, das schwere Schiff, das den Hafen verlässt, der Abbruch, der steht und besteht, die Zapfsäule, dass sie von Menschen geschaffen wurden. Auch sie kann man sehen in Hendrik Krawens Malerei, die Menschen. Sie haben keine Namen, keine Gesichter. Die Dinge haben sie zu Objekten gemacht, die nun den Dingen Halt geben. Sie bewegen sich zwischen ihnen, ordnen sie. Sind Anzeiger ihres Massstabs, ihrer Verortung und Größe. Natürlich hat der Künstler sie in Szene gesetzt, aber vielleicht weniger wie ein Billardspieler als wie der Mann am Flipper. Spannungsverhältnisse, die anziehen und abstossen, Möglichkeit und Entscheidung gehorchen Zwangsläufigkeiten. Elektromagnetik.

        Trotzdem frage ich mich, was er wohl gesagt hätte, wenn ich in seine Bibliotheca gekommen wäre und
        gefragt hätte: »Sagen Sie, Doktor, sieht's gut aus für mich?«
(Elisabeth A. Povinelli, Einatmen ausatmen,
        in: Das Anthropozän—Projekt. Ein Bericht, Berlin 2014)

Wenn die Menschen an eine Grenze kommen, dann schaffen sie ein neues Ding. So einfach. Ist das. Und stellen es in den Raum. Sie sind moralisch, haben Angst, wissen um ihre Geschichte, die vergangene wie die kommende. Der Moment, das Jetzt, existiert ihnen nur als Behauptung, zu kurz, um es zu fassen.

        Aber freilich muss sich die Gewalt des Einverleibten im sieghaften Anprall stündlich bewähren.
        In beängstigender Verve jagt er mit seinem Auto drauf los, und wenn dabei nicht irgend etwas in Trümmer
        geht, die Straßenmauer oder ein Eselkarren oder die eigene Maschine, so hat die ganze Autofahrerei
        keinen Sinn gehabt.
(Alfred Sohn-Rethel, Das Ideal des Kaputten, Frankfurt am Main, 1926)

Hendrik Krawens Malerei birgt eine große Melancholie. Das, weil wir uns den abgebildeten Menschen näher fühlen als den Dingen.

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b. der angebrochene Tag Version II

Hendrik Krawens der angebrochene Tag Version II bei Martin Leyer-Pritzkow ist eine Variation seiner 2020er Ausstellung bei italic Berlin.

Krawens Malerei hat die Anmutung von Grafik oder Zeichnung. Von Menschen Geschaffenes, meist im urbanen Raum angeordnet, ist sein Thema. Mit Pinsel und monochromer Farbe entwirft er ein auf Linien basiertes, präzises kühles Geflecht, das er oft mit groben, flächigen Schattenwesen kontrastiert. Die Handarbeit ist ihm wichtig, die Pinselbewegung, der gestische Ausdruck ist es nicht, das Dargestellte wird emblematisch. Große in Rahmen gedachte Gemälde wechseln sich mit über den Bildrand hinausweisenden Motiven ab. In der Reduktion und Abstraktion der beobachteten Welt auf Pattern und Muster macht er die Konstruiertheit eines vermeintlichen Durcheinanders sichtbar. Krawen entlehnt Bildelemente aus Drucktechnik, Architektur und vor allem der Typographie. Er spielt mit ihr zwischen Sgraffiti und Graffiti, lässt Buchstaben purzeln, dreht sie durch den Raum, würfelt Inscriptio, Pictura und Subscriptio durcheinander. Auch Ornamente werden ihm zur Schrift, er stellt sie nicht singulär aus, sondern untersucht sie in Gruppen, sich wiederholend, variierend, mäandernd, Labyrinthe und Straßen bildend. Und wer um seine Liebe zu Popmusik, vor allem der elektronischen Spielart und Dub, weiß, wird in Krawens Werk eine aufregende weitere Schicht entdecken können.

der angebrochene Tag Version II zeigt Arbeiten von 1982 bis 2021. Man sollte die Ausstellung aber nicht als eine Art von Retrospektive lesen. Krawen versammelt nicht seine größten Hits (oder seine größten Misses), das Einfügen älterer Arbeiten folgt der Notwendigkeit einer für den gesamten Raum gedachten Bildlogik, die nach gezielten Ergänzungen verlangte.

So findet auch für sein Werk eher Ungewöhnliches darin Platz wie Fotografie oder skulpturale Arbeiten, ein Teppich, eine Lampe, und Gefundenes, von der Straße Aufgehobenes, wie eine Verpackung, ein Bilderrahmen oder ein Stück Karton. Das Danachgreifen mag spontan erscheinen, dahinter verbirgt sich aber ein Verbund aus Augenblick, Wahl und Geheimnis. Und vielleicht waren diese gedacht als Material, Probe, Vorlage für ein Gemälde. Bis sie Krawen befahlen, dass er sie zu Arbeiten mache. Und sie fügen sich bestens ein in die Ausstellung, bilden ein Ensemble mit den vertrauten malerischen Werken und unterstreichen Krawens Blick, seine Hand, seinen Eingriff, und wie sich eine Jahrzehnte lange künstlerische Praxis auf Schönste paart mit Intuition.

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c. Der angebrochene Tag

Der angebrochene Tag ist der nicht endende Abend in der Lieblingsbar. Eine gewachsene Situation, Vertrautheit: Neues und Liegengelassenes. Erinnerungsstücke, Anekdoten der Leichtigkeit — ein sich Wohlfühlenkönnen, ohne in Nostalgie, Beweihräucherung, Heiligsprechung einsteigen zu müssen. Man sitzt am Tresen, lässt die Augen wandern, sie werden nie müde. Man schnappt ein paar Wortfetzen auf, »Wir sind hier nicht in St. Petersburg, Baby!« Aber wenn Dir danach wäre, kannst Du gerne einsteigen, tiefer einsteigen. Solltest Du sogar. Wenn es von sich behauptet, leicht zu sein, dann spricht daraus keine Gleichgültigkeit sondern eine reife Gelassenheit, die es Dir nur einfach machen möchte, einzusteigen: »Umarme mich!« und dabei weiss, dass es Dir der größte Schatz sein kann.

(Juli 2021)

Three attempts toward Hendrik Krawen, der angebrochene Tag

a. The things of the cities

The wind is decisive, mass. Shards on abraded ground,
the city now only an overview that does not count. (translated from: Sonja vom Brocke, "statt Katastrophenfilm", in: Venice singt, Berlin 2015).

The place doesn't matter. Neither at first, nor later. The same goes for time. Five in the morning, just after breakfast, on the way to the factory, 1982 in the Middle Ages. Traces? No traces, nothing remaining. It's always about construction, and image is never image but always likeness. Not blurred or vague, but sharp. With a precise edge, flawless. Techniques are combined, nature is created, fenced, demarcated, labeled. And of course, everything is always natural, everything is of organic origin. There is no form apart from the forms that exist. And we cannot think of anything apart from what we can think.

A woman walked through the train corridor, in her fingers, a baby bottle as a hand grenade. Outside, a pheasant ran alongside a hedge. On the horizon, a man sat on the roof of a house and caught a tool that was thrown to him (translated from: Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt am Main, 1983).

In Hendrik Krawen's painting, the things of cities tumble about. Signs, street furnishings, doors, numbers, lanterns, parks. They have names and faces. They communicate with each other, are in conversation with one another. Sometimes they chatter back and forth, sometimes they nod to each other understandingly. They know no morals and have no fear. They are without any past — or at least they know nothing of it. They have no memory, history as if folded away; some are artefacts, like relics, they quietly sense something, more like a hint, a kind of daydream, like when someone familiar breathes down your neck or blows gently on your face. They are now, right in this moment, and that's okay, they're okay with that. More than that. They are happy.

Although affects and moods don't really concern them.

Once again today I walked through the wretched and depressing parks and wondered why I'm about to go back to my depressing little hermitage and write coherent sentences, only because I've lost the heroically incoherent images, which in turn I've obviously only lost because I've destroyed the machine that, by constantly threatening and doubting them, made those images and their incoherence possible in the first place. (translated from: Diedrich Diederichsen, Herr Dietrichsen, Cologne 1987)

What is just a glaze, a foam, a breath, a blow, what they do not suspect, neither the heavy ship that leaves the port, the ruin that holds and beholds, or the gas pump, that they were created by people.

They too can be seen in Hendrik Krawen's painting — the people. They have no names, no faces. The things have turned them into objects, which now give the things a foothold. They move between them, and arrange them. They are indicators of their scale, their location and size. Of course, Krawen, the artist has staged them, but perhaps less like a billiard player than like the man at the pinball machine. Tension relationships that attract and repel, possibility and decision obey inevitabilities. Electromagnetics.

Still, I wonder what he would have said if I had walked into his Bibliotheca and asked, "Tell me, doctor, does it look good for me?" (translated from: Elisabeth A. Povinelli, Einatmen ausatmen, in: Das Anthropozän-Projekt. Ein Bericht, Berlin 2014)

When humans reach a limit, they create a new thing. It's as simple. As that. And put it in the room. They are moral, fearful, know about their history, the past as well as what's coming. The moment, the now, exists to them only as an assertion, too brief to grasp.

But admittedly, the violence of the incorporated must prove itself hourly in the victorious impact. With frightening verve, he chases it with his car, and if something doesn't get smashed to pieces in the process, the street wall or a donkey cart or his own machine, then all that driving around will have had no meaning. (translated from: Alfred Sohn-Rethel, Das Ideal des Kaputten, Frankfurt am Main, 1926)

Hendrik Krawen's painting contains a great melancholy. It's because we feel closer to the depicted people than to the things.

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b. der angebrochene Tag Version II

Hendrik Krawen's der angebrochene Tag Version II at Martin Leyer-Pritzkow is a variation of his 2020 exhibition at italic Berlin.

Krawen's painting has the feel of graphics or drawing. Things created by people, mostly arranged in urban space, are his subject. With brush and monochrome paint, he creates a precise cool mesh based on lines, which he often contrasts with rough, flat shadow creatures. The craftsmanship is important to him, the brush movement, the gestural expression is not. The represented becomes emblematic. Large paintings conceived in frames alternate with motifs that extend beyond the edge of the picture. In the reduction and abstraction of the observed world to pattern and grid, he makes visible the constructedness of a supposed clutter. Krawen borrows pictorial elements from printing techniques, architecture, and above all typography. He plays with it between sgraffiti and graffiti, let's letters tumble, twist's them through space, scrambling inscriptio, pictura and subscriptio. Ornaments also become writing for him, he does not exhibit them singularly, but examines them in groups, repeating, varying, meandering, forming labyrinths and streets. And those who know about his love for pop music, especially the electronic variety as well as dub, will be able to discover an exciting further layer in Krawen's work.

der angebrochene Tag Version II shows works from 1982 to 2021, yet the exhibition should not be read as a kind of retrospective. Krawen does not gather his greatest hits (or his greatest misses), the insertion of older works follows the necessity of a pictorial logic conceived for the entire space, which demanded specific additions.

Thus, even rather unusual things for his work find a place in it, such as photography or sculptural works, a carpet, a lamp, and found things, picked up from the street, such as a package, a picture frame or a piece of cardboard. This grasping-for may seem spontaneous, but behind it is a compound of moment, choice and mystery. And perhaps these things were meant as material, sample, template for a painting. Until they ordered Krawen to make them into works. And they fit perfectly into the exhibition, forming an ensemble with the familiar painterly works and underlining Krawen's gaze, his hand, his intervention, and how a decades-long artistic practice pairs beautifully with intuition.

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c. Der angebrochene Tag

The dawning day is the never-ending evening in the favourite bar. A grown situation, familiarity: new and abandoned. Memories, anecdotes of lightness — a feeling of well-being without having to get into nostalgia, adulation, canonisation. You sit at the counter, let your eyes wander, they never tire. You pick up a few scraps of words, "This ain't St. Petersburg, baby!" But if you feel like it, you're welcome to climb in, go in deeper. You even should. If it claims to be easy, then it does not speak of indifference but of a mature serenity, which only wants to make it easy for you to get in: "Embrace me!", knowing that it can be the greatest treasure for you.

(translation by Alexander Paulick)

 


Kleines Musikbrevier (Katalogbeitrag)


ROY. Hör' ich doch, was ihr da redet.
FRED. Im Kanon oder im Karton?
CARL. Als Chor und zwischen den Kartons.
(Der Zynische Körper)

Am fünfundzwanzigsten Januar 2012 um null Uhr siebenundfünfzig hatte ich in meinem Postfach eine Nachricht von Jörg Langkau: "... übrigens ganz liebe Grüße von Herrn Prof Heinz Emigholz, den ich kürzlich in Zürich traf! Ich soll dir ausrichten, dass er sehr gerne ein Video mit dir machen möchte!"
Noch im Augenblick griff ich zum Telefon.

Jörg Langkau, Freund — präziser: Teil meiner Familie, der erweiterten, schönsten, weil gewählten; im Tbilisi-Köln-Berlin-Komplex —, Filmschaffender und Schüler und ehemaliger Student von Heinz Emigholz, hatte eine Reihe von Videos für meine Band Kreidler produziert. Kreidler, das sind Thomas Klein, Alex Paulick und ich. Ich vermute, Jörg hatte ihm im Januar in Zürich die vier Videos zu unserem Album Tank gezeigt.

Auf den Namen Heinz Emigholz war ich als Teenager gestoßen. In einer Ausgabe von Françoise Moulys und Art Spiegelmans Magazin Raw sah ich eine Grafik, die mich atemlos begeisterte. Ich wollte Comic-Zeichner werden, und diese Arbeit wies in eine Richtung, wie ich mir meine eigenen Zeichnungen vorstellte. Im Kleingedruckten des Magazins stand: Emigholz, Künstler, Filmemacher, Basis des Make-Up. Ich war vierzehn Jahre alt, lange vor Internet, und wusste nicht, wo ich mehr hätte über ihn erfahren können. Aber ich behielt die Zeichnung und die paar Sätze als einen Schatz in mir. Es sollte rund zwanzig Jahre dauern bis zur nächsten Begegnung. Auf einer Party bei Jörg Langkau, in Berlin, stand ich in staunender Aufregung vor Originalen von Heinz Emigholz. Und erfuhr, dass er in Berlin unterrichte und Jörg sein Student sei.

Music and Lights (Imagination, 1982)

Wer denkt, dass Musik im filmischen Werk von Heinz Emigholz, wenn überhaupt, dann eine untergeordnete Rolle spiele, denkt mindestens doppelt falsch. Selbst in seinen frühen — stummen — Arbeiten ist sie präsent. Rhythmus, Taktung, Verdichtung, Engführung, ein Spiel mit Kontrasten, Leere, Fülle, mit negativem Raum. Man kann die Filme gut mit Begriffen aus der Musiktheorie fassen. Der Spaß, den das Betrachten dieser Filme bereitet, ist eine Art von "visuellem" Hören.

In Die Basis des Make-Up setzt er "tonale Musik" in der Funktion eines Einzoomens ein — eine Vergrößerung im Sinne eines Auszeichnens oder auch des Heraushebens und Entrückens einer Situation, wie die Orchestermusik in der Dark-Room-Szene (Zoomen als Kameratechnik nutzt Emigholz in keinem seiner Filme: Will er näher ran an eine Szene, dann positioniert er die Kamera näher an die Szene). Ganz prominent räumt er Musik Platz ein in Der Zynische Körper: Neben zwei Stücken von Daliah Lavi hat Nikolaus Utermöhlen sie dem Film auf den Leib geschnitten. Und wie eine Verwinkelung in Sichtbarkeit und Transparenz tritt Utermöhlen dann auch als Darsteller auf.

In seinen eher dokumentarischen Filmen, vor allem in der Reihe "Photographie und jenseits", verzichtet Emigholz auf einen zusätzlichen Soundtrack, wie auch auf eine Off-Stimme. Ich sage "eher", weil in seinem Werk die Trennung zwischen Dokumentar- und Spielfilm wenig Relevanz hat. Aber neben — auch hier — Rhythmus, Taktung etc. ... im Bild, spielt die Tonspur eine ähnlich wichtige Rolle wie die Bildspur. Der Ton verortet das Gebaute im Raum und setzt es in einen eindeutigen zeitlichen Kontext: Vor 50 Jahren klangen Schuhe auf Asphalt anders als heute, und in 50 Jahren wird kein Wankelmotor, sondern nur noch das Surren des Elektroautos ertönen. Schließlich, was wir im fertigen Film hören, ist nicht zufällig anwesend gewesenes Geräusch, es ist zwar der Ton, der während der Dreharbeiten "da" war, aber dieser läuft nicht eins zu eins zum Bild, sondern war zuvor — während der Postproduktion — von Emigholz gezielt ausgewählt, gesetzt, komponiert worden.
Im meisterlichen Streetscapes [Dialogue] schmiegen sich die Stimmen aneinander, umspielen sich, umtanzen einander, ein ununterbrochener Dialog in Form einer virtuosen, mathematisch ausgezirkelten, sich verbreiternden Fuge (also ungleich beispielsweise dem Durchsprechen in Alain Resnais' Letztes Jahr in Marienbad, das ist eine Schlaufe, eine verhuschte, ein nebeliger Loop). Ein anschwellendes Rauschen, einen euphorischen und euphorisierenden Rausch im Sinne, Wege und Auswege suchend, Fragen beantwortend, neue aufwerfend. Und wenn der Film am Ende stoppt, dann bleibt er in einem symphonischen Nachhall in einem.

The Airstrip (2013)

The Airstrip ist Teil 21 von "Photographie und jenseits" und Teil III von "Aufbruch der Moderne", Heinz' Serie über Betonarchitektur. Man konnte 2013 also ahnen, was einen erwartet. Aber was einen erwartete, war eine Überraschung. Der Film schien die Serie von Architekturfilmen zu beenden, "The Airstrip — Die Piste soll so etwas wie ein Abschluss oder ein Resümee der Serie werden. Rund um die Welt Sequenzen mit Bauwerken, die ich liebe", sagte Heinz 2013. Andererseits konnte man sich vorstellen, dass so vielleicht der Anfang, der ursprünglich geplante, nie gedrehte Film über Architektur ausgesehen haben könnte, Teil 0, an dessen Stelle dann die Serie trat.

The Airstrip erzählt in einer Reise um die Welt entlang von Betonarchitektur und anhand von 34 Bauwerken die Geschichte des 20. Jahrhunderts, im Zentrum der Zweite Weltkrieg. Die erste Überraschung war, wie der Film mit einer Off-Stimme eröffnete, die fortan in unregelmäßigen Abständen zu hören war. Sie spannt einen erzählerischen Bogen, erklärt uns dabei nicht, was wir sehen oder gar sehen sollen, sondern reflektiert das Bild, tritt in Dialog mit den Bauwerken, öffnet das Nichtsichtbare. Die Stimme, Natja Brunckhorst (wir werden ihr in weiteren Filmen begegnen), ist natürlich die des Regisseurs. Etwa 53 Minuten im Film, wir haben uns an "Stimme" gewöhnt und befinden uns in einem Warenhaus in Montevideo, spricht sie folgende Worte: "Fleisch und Musik. Ich kann Musik in Dokumentarfilmen nicht ausstehen. Man sollte ihren Auftritt per Gesetz verbieten. Die Welt ist an einem Ende angekommen, wenn man jede ihrer Noten und Arrangements vorhersagen kann." Das Bild schneidet um. Und Musik ertönt. Kreidlermusik. Moth Race. In einer surrealen Szene am Flughafen von Montevideo: Fleischstücke und Devotionalien fliegen um die Ecke. Danach schleichen sich immer mehr Artefakte in den Film ein, die Fotografie eines Soldaten (aus dem Film An Bord der USS Ticonderoga) am Flughafen von Mexiko City, ein Mann am Strand wischt Sand vom selben Bild auf einem vergrabenen Monitor, Atombomben im Flughafen von Brasilia — und zwei weitere Male Kreidlermusik, einmal /i>Sun zu den Bildern einer verlassenen Mall und schließlich Rote Wüste während der Fahrt auf der titelgebenden Piste zum "Northfield Memorial" auf Tinian. Heinz kommentierte: "Das könnte einige Leute überraschen, die zu Recht meinen, ich hätte etwas gegen Musik in Dokumentarfilmen. Für mich werden die Stücke zu einem Teil des Dialogs."

Den (2012)

Frühjahr 2012. Ich stand nun seit einigen Wochen in Kontakt mit Heinz Emigholz. Im April ließ ich ihm das kommende Kreidler-Album zukommen. Am vierundzwanzigsten April um acht Uhr vierunddreißig schrieb er mir, "... die neuen Stücke sind klasse, vielen Dank. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Gozo und werde sie mitnehmen und studieren, aber ich habe jetzt schon für fast alle eine filmische Idee." Wir trafen uns im Mai, und Heinz zeigte mir eine Filmaufnahme, die er für The Airstrip auf den Nördlichen Marianen gemacht hatte. Eine einundzwanzigminütige Fahrt durch den Dschungel auf Tinian zum Abflugplatz der beiden 1945 auf Hiroshima/Nagasaki abgeworfenen Atombomben. Heinz spielte parallel unser achtminütiges Stück Rote Wüste. Bis zu diesem Zeitpunkt hieß für mich Video-Edit, ein Musikstück auf drei Minuten dreißig zu kürzen. Heinz verlangte nach dreizehn zusätzlichen Minuten. Ich fand sie in unseren Aufnahmesessions und Studio-Outtakes und schnitt die Musik entlang des Filmmaterials.

Die kommenden Monate gingen wir das gesamte Album durch. Den wurde am fünften Oktober 2012 veröffentlicht. Für das Stück Cascade wählte Heinz den duschenden Claus-Wilhelm Klinker unter Beobachtung von John Erdman, zu Deadwringer rasieren sich Klinker und Bernd Broaderup gegenseitig — beides Szenen aus Die Basis des Make-Up. Sun zeigte eine weitere Aufnahme von den Nördlichen Marianen: ein verlassenes Einkaufszentrum auf Saipan, mit der Anmutung von Küchenmöbeln Ettore Sottsass'. Moth Race dann, wie erwähnt, am Flughafen von Montevideo. Celtic Ghosts — von einsdreißig auf dreieinhalb Minuten verlängert — mit einem Ausschnitt aus Goff in der Wüste. Und schließlich Winter zu uneditiertem Material von Schenec-Tady — und uneditiert heißt hier auch, dass der Tanz, den das Filmbild zur Musik aufführt, schon im stummen Filmbild war.

Das gesamte Album. "Alle Musikclips zusammen bilden jetzt so etwas wie eine Mini-Retro meiner Filme", sagt Heinz.

The Last City (2020)

Gleich zu Beginn: Ansage des Films, wo es langgeht. In der Wüste schlägt ein Cyborgwesen ein knappes sehnsüchtiges Klagen an, am Horizont jagen Raumgleiter hin und her. Sonnenauf- oder -untergang, ein und dasselbe. Schnitt in eine Ruine, Menschen, Schnitt auf ein Flugzeug aus dem 20. Jahrhundert. Artefakte.

Für The Last City hatte sich Heinz Emigholz Radio Island vom Album European Song (2018) ausgesucht. Ein dröhnendes, zorniges Kreidlerstück in unbarmherzig scheppernder Rhythmik, die ein schlierend bremsendes Humpeln vor sich her peitscht — mit einem erratisch auftretenden kurzen synthetischen Geheul als einziger Möglichkeit einer Hookline. Wie eine Maschine, die nach Jahrzehnten pausenlosen Betriebs ihre Grenzen spürt: Es schmerzt, aber sie gibt nicht nach. Im Film ist Radio Island die Zeitmaschine, nur als Musik sichtbar. Auch sie ist etwas aus dem Takt geraten, reißt Schmutz und Scherben mit sich, lässt sie fallen, wo sie nicht hingehören, läuft nicht mehr rund, konfrontiert die Darstellerinnen und Darsteller mit dem jüngeren oder älteren Selbst, die sich in der Verdoppelung verschoben gerade noch so eben an Geschlecht und Zeichnung erkennen können, schickt sie in Verkehrsunfall und Drogendämmerung und seziert sie ohne Betäubung.

Ich hatte unser Stück in Einzelspuren zerlegt und Szene für Szene neu zusammengesetzt. Radio Island nimmt das Tempo des Films auf, zerrt die Bilder an Nahtstellen über Zeit- und Raumgrenzen und gibt sie dann wieder frei. Das retardierende Moment in der Musik ist ein Fragezeichen, lässt die Zuschauer kurz innehalten, mit dem wiederkehrenden Geheul und dem rumorenden Dröhnen als Anker, ein Augenblick des Reflektierens, dabei gleichzeitig die rasende Eröffnung der nächsten Szene.

The Last City ist eine Science-Fiction-Erzählung der Jetztzeit. Eine dunkle Komödie, die in die Beschränkungen und Untiefen des 20. Jahrhunderts hinabsteigt, wo alles Ware geworden ist, alles gehandelt und verhandelt wird. The Last City ist ein kämpferisches Plädoyer für die Wissenschaft, für die Schönheit im Kaputten und für eine tabulose Gesellschaft. Das Ende gerät dem Film auf eine Art versöhnlich, um im Trudeln um ein schwarzes Loch — dem unmöglichen Genießen — in elliptischer Bewegung — Sonnenauf- oder -untergang, ein und dasselbe — erneut zu beginnen.

2+2=22 [The Alphabet] (2019)

Das zwanzigjährige Bestehen von Kreidler 2014 wollten wir mit einer besonderen LP-Produktion feiern; eine besondere Produktion an besonderen Orten, und den Entstehungsprozess filmisch begleiten. Übermut und ein Unmaß an Ideen führten zu einem an Komplexität kaum zu übertreffenden, Kontinente überschreitenden Konstrukt, das wir glücklich verwarfen, als ich an den legendären Aufnahmeraum der Filmstudios in Tbilisi erinnert wurde. Ich kannte ihn nur vom Erzähltkriegen, aber wollte ihn nun — im Sommer 2013 — besuchen, und dabei mit Freundinnen und Freunden in Tbilisi Pläne schmieden, wie der Film aussehen könnte; schon im Frühjahr zeichnete sich ab, dass letzteres ein an Komplexität kaum zu übertreffendes Unterfangen werden würde. Als mich Heinz am Tisch in Berlin ansprach: Er habe gehört, dass wir unser nächstes Album in Tbilisi aufnehmen wollen; Heinz machte einen konkreten Vorschlag, wie der Film dazu aussehen könnte, den er mir auf einer Serviette skizzierte. Und ich konnte einfach nur Ja sagen. Im Sommer sah ich den Aufnahmeraum auf dem "Kartuli Pilmi"-Gelände, einem der ältesten Filmstudios der Welt, zum ersten Mal und konnte auch hier nur Ja sagen. Im Oktober 2013 brach die Band auf, das Album ABC aufzunehmen und Heinz seinen Film 2+2=22 [The Alphabet].

Mein Sohn Nika und ich waren schon in der Stadt, als Heinz aus Israel einflog. Ein paar Tage vor Aufnahmebeginn. Wir zeigten ihm Lieblingsorte. Erste Eckpunkte für die Dreharbeiten.

Georgien nimmt einen besonderen Stellenwert bei Kreidler ein, insbesondere bei Detlef und mir. Den Klang von Tbilisi kennen wir gut. Wir waren verliebt in die Stadt von unserem ersten Besuch an: 2000 spielten (und deejayten) wir als "Binford" auf der ersten Technoparty des Landes. Und lernten nebenbei Jörg Langkau kennen. Eine irritierende Begegnung. 2003 spielte Kreidler in einem mondänen Spielkasino. 2012 schickte ich Heinz Fotos aus der Stadt. Studentinnen von ihm kamen aus Tbilisi.

Heinz und Till Beckmann richten die Kamera ein. Till, der seit 2007 an fast allen Produktionen von Heinz beteiligt ist: Kameraassistenz, Originalton, Schnitt, Postproduktion.
Wir haben die Wahl, können uns relativ frei im Raum platzieren. Ich frage Heinz, ob er einen speziellen Wunsch habe. Sechzig kaputte Glühbirnen müssen noch gewechselt werden (im Film sieht man, das hat nicht ganz geklappt). Zwei Tage Dreharbeiten im Studio, davor, dazwischen, danach auf den Straßen der Stadt. Heinz und Till beobachten, drehen, wechseln die Position. Sie bewegen sich leise um uns herum, dringen nie zwischen uns ein. Ein Stereomix der Liveaufnahmen zur Orientierung auf die Kamera; später werden Alex und ich die Mehrspur-Aufnahmen für den Filmton editieren.

Schon als er mir die Serviette zuschob, meinte Heinz, ihn treibe die Frage um, wie Musik entsteht. Wie oder vielleicht auch wo? — was sind die Bedingungen ...

Die 2 begegnet einem regelmäßig in Heinz' Werk: in Filmen, Büchern, Zeichnungen, ebenso in seiner Biografie. Aber das "2+2" im Titel ist natürlich auch eine Replik auf Godards Film 1+1 (1968), in dem die Rolling Stones im Aufnahmestudio zu sehen sind, beim Arbeiten am Stück Sympathy for the Devil (den entscheidenden Moment, in dem aus einer folkigen Bluesnummer "das" Sympathy for the Devil wird, wie wir es kennen, hat Godard allerdings verpasst). "Dass die Arbeit der Rolling Stones darin in ihrem ruhigen Fortgang mehr und mehr an Würde gewonnen hat, und die Inszenierungen Godards dagegen als Zeitdokumente schlecht gealtert sind, könnte man als eine bemerkenswert gegenläufige Korrelationsbewegung in der Zeit ansehen. Das könnte auch diesem Film geschehen", notierte Heinz in seinen Produktionsnotizen. Unwahrscheinlich! — sage ich, denn wie Heinz auch schrieb: "anstelle des plakativen, politpop-ideologischen Macramés in One Plus One tritt in 2+2=22 [The Alphabet] ein objektivierendes Stadtportrait."

Ich weiß nicht, ob sich Heinz mit 2+2=22 [The Alphabet] seine Frage beantwortet hat. Was er bei uns beobachten konnte, war, wie in einem Gruppenprozess mit wechselnden Dynamiken Musik dialogisch entsteht. Das mag nicht ihr Ursprung sein, aber vielleicht eine Annäherung daran. Das Arbeiten mit Sängerinnen und Sängern, die auf drei Stücken des Albums georgischen Chorgesang abstrahieren, war ein konkretes Umgehen mit der Lokalität der Produktion; auch hatte Thomas sich sein Schlagzeugset vor Ort zusammengestellt. Der Aufnahmeraum, das Vertrautsein mit und in der Stadt, Tbiliser Freunde und Freundinnen, gemeinsame Abend- und Mittagessen schufen eine Atmosphäre, die sich in die Musik übertragen hat. In 2+2=22 [The Alphabet] gleiten die Szenen im Studio, die Notizbücher, die Erzählstimme von Natja Brunckhorst, die Aufnahmen in der Stadt — mit all den Geräuschen der Stadt — ineinander über. Mal geschmeidig, mal konfrontativ.

Maschinenhafte Rhythmen, Repetition, eine verschränkte, gegenläufige, sich auf Schichten aufbauende Kompositionsweise reflektieren visuell wie akustisch den urbanen Raum, in dem sie entstanden sind und der Bedingung für sie ist. Ein großer Dialog. Und zumindest "kann" da Musik entstehen.

Berlin Underground (2021)

Mai 2021. Heinz hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Es gibt Fisch. Nach dem Essen schauen wir ein paar Szenen eines Rohschnitts von Berlin Underground an. Heinz reicht mir eine wunderbare Buntstiftzeichnung, die die musikalischen Einsätze im Film festlegt — und mich an Peter Savilles Alphabet für New Order 1983 denken lässt.

Wir sprechen seit ein paar Jahren über den Film. Er hat unterwegs einige Schlenker genommen. Ein früher Wunsch von Heinz war, dass Kreidler ein hämmerndes durchlaufendes Stück für den auf drei Stunden Länge konzipierten Film komponieren. Erweitert um die Idee einer alternativen zweite Ausspielung des Films ohne die Musikspur, zu der dann Kreidler live spielen könnten. Eine reizende Herausforderung. Einige unserer Stücke können live zwar schon 10, 15 Minuten Länge annehmen, aber ich kann kein Kreidler-Konzert erinnern, das 100 Minuten überschritten hat. Mento schien mir ein geeigneter Ausgangspunkt. Ein Stück, das in 2+2=22 [The Alphabet] von Heinz ausführlich beleuchtet wird. Natürlich auch mit dem Gedanken, einen Bogen zwischen den beiden Filmen zu schlagen. Mento hat den vorantreibenden Rhythmus, aber für uns nie den Charakter einer etwas verlorenen, wenig zielführenden Studio-Session ablegen können, und es somit auch nicht auf ABC geschafft. Es nun aber "für einen" und "in einem" Film neu zu denken, jenseits der Erfordernis, eine Albumtauglichkeit herstellen zu müssen, sondern als dreistündiges Musikstück, das schien genau die Form zu sein, nach der Mento "verlangte".

Wir hätten Mento vermutlich aus kürzeren Abschnitten am Computer konstruiert: Alex Idee war, zwei, drei Mal über die gesamte Länge des Films (zu einer Projektion des Films) zu spielen, die besten Momente auszuwählen, Overdubs aufzunehmen. Aber Mento hätte immer den Charakter einer Live-Session behalten. Ich arrangierte ein Dutzend Tonbeispiele, die illustrieren sollten, wie die Dynamik des Stückes laufen könnte. Und schickte sie Heinz. Er mochte die kurzen Skizzen, und sie lösten in ihm eine neue Idee aus. Am Telefon fragte er nach 170 Miniaturen. Wir lachten beide. Aber ich hatte das Gefühl, dass das Ablassen von der Drastik von 180 Minuten pausenlosem Hämmern, das sicherlich das Filmbild sehr bestimmt hätte, nun den Film befreite: Er schlug eine neue Richtung ein. Und für diese schien Bandmusik nicht mehr das Richtige zu sein. Alex und ich machten uns an den Soundtrack.

In der finalen Form hat sich die Anzahl der musikalischen Einsätze mehr als halbiert; manche haben die Länge von wenigen Sekunden. Musik ist in den Notizbuchszenen und den zwei Parfumszenen. Die Filmaufnahmen in der Stadt (Buenos Aires und Berlin) behielten den Ton der Stadt.
Im Film treten 170 Notizbücher auf. In neun Größen. Chronologisch. Oft mehrere zusammengefasst in einer Szene. Jedoch entspricht die Abfolge der Größen der Notizbücher nicht ihrem zeitlichen Entstehen: Die Formate springen hin und her. In der Buntstiftzeichnung hat Heinz jeder Größe eine Farbe zugeordnet, was dem Film eine unterschwellige, geheime Ordnung gibt. Alex schlug vor, diese Struktur in der Musik nachzuziehen, in dem wir zu jeder Farbe eine Tonreihe in reiner Stimmung entwickeln (plus eine zusätzliche für die zwei Parfum-Sequenzen).

Wir komponierten in jeder dieser neun Tonreihen ein Stück, das wir dann wiederum für die jeweiligen Auftritte dieser Tonreihe im Film (also entsprechend des Farbsystems) in Teile zerlegten und passend arrangierten. "Probably", mutmaßt Alex, "the first Western feature length movie with a microtonal original soundtrack". Das Arbeiten mit individuellen Tonreihen in reiner Stimmung ist ein artifizielles Konstruieren, aber den Klängen, die in den Straßenszenen zu hören (und sehen) sind, dennoch näher als die abendländische wohltemperierte Stimmung. Stilistisch hielten wir es rhythmisch. Wir nahmen das Hämmern raus und die Disco rein.

Cruisin' (Smokey Robinson, 1979)

Heinz' Verständnis von Musik im Film (oder "mit" Film) ist, dass die beiden Kunstformen sich gegenseitig bereichern und erweitern müssen. Musik und Bild werfen Fragen auf, die sie in ihrem jeweiligen Selbst vielleicht so nicht gefunden hätten.

Er möchte insbesondere im Dokumentarfilm keine Musik hören und gestattet sie in The Airstrip, weil sie und wo sie "zu einem Teil des Dialogs" wird — in etwa wie in der Rockmusik, wenn den Sängern oder Sängerinnen die Worte ausgehen und das Gitarrensolo übernimmt. Mit The Airstrip aber eben auch in einem Film, bei dem den Zuschauern bewusstwerden müsste, dass Heinz Genregrenzen keine Bedeutung beimisst. (Im Übrigen sollte es sowieso jeder und jedem bewusst sein, dass es den "reinen" Dokumentarfilm frei von inszenierten Elementen nicht gibt.)

Der Einsatz von Musik präzisiert eine Szene, verortet sie oder übernimmt eine objekthafte Funktion, die im Bild nicht sichtbar ist, wie in The Last City oder wie Daliah Lavi "im" Kumpelnest in Der Zynische Körper. Da natürlich auch als Zitat.
Musik soll den Zuschauenden nicht für dumm verkaufen und ihm diktieren, wie er eine Szene zu sehen hat — ungleich Zumutungen wie beispielsweise von Yann Tiersen in Amelie, Philip Glass in The Hours oder John T. Williams mit seinen perfiden Wagnerianischen Schlachtengemälden und Hans Zimmer in seinem sonorischen Größenwahn. Wenn das Bild nicht genug Kraft hat, dann sollte der Regisseur vielleicht besser das Fach wechseln.

Heinz' Umgang mit Musik ist kontrolliert, das heißt aber nicht, dass er sich nicht auch überraschen lässt, Körperlichkeit und ein Hang zur lustvollen Willenlosigkeit ist immer spürbar. Und natürlich ist er als Künstler, Handwerker, Mensch erfahren genug, dass er weiß, wie er diese Situationen erzeugen kann.

Es ist der fünfundzwanzigste Januar 2012, null Uhr neunundfünfzig. In meinem Kopf tanzen Zeichnungen aus Die Basis des Make-Up zu Kreidlermusik. Freizeichen. Ein Tuten. Noch eines. Noch eines. Auf der Gegenseite nimmt Jörg Langkau den Telefonhörer ab. (1)

(1) Heinz mit Mick Jagger im Studio 54; Heinz auf Tour mit Nico; Heinz auf der Multiverse-Kassette; Heinz auf der Tanzfläche der Berghain Kantine; Heinz entwirft ein Plattencover für Kreidler; wo Cruisin' spielte, und wo es spielen wird: dazu dann im nächsten Katalog.

(Juli 2021)

A Brief Musical Guide

ROY: I heard that.
FRED: In a canon or in a carton?
CARL: As a chorus and between the cartons.
(The Holy Bunch)

On the twenty-fifth of January 2012 at zero fifty-seven, a message from Jörg Langkau pinged into my inbox: "by the way, best wishes from Professor Heinz Emigholz, whom I recently met in Zurich. He told me to tell you that he would really like to make a video with you."

Without a moment's delay I reached for the phone.

Jörg Langkau is a friend—more specifically, part of my family, the extended family that is most wonderful because it was chosen and forms the Tbilisi/Cologne/Berlin network—filmmaker, pupil, and former stuDent of Heinz Emigholz. He had produced a series of videos for my band, Kreidler, which is made up of Thomas Klein, Alex Paulick, and me. I imagine Jörg showed him the four videos for our album Tank in January in Zurich.

I first came across the name Heinz Emigholz when I was a teenager. In an edition of Françoise Mouly and Art Spiegelman's magazine Raw, I saw a graphic work that left me speechless with enthusiasm. I wanted to become a comic book artist, and his piece inspired me about the direction my own illustrations should take. In the magazine's small print, I read: "Emigholz, artist, filmmaker, Die Basis des Make-Up." I was fourteen years old; this was long before the Internet, and I had no idea how to find out more about him. But I held onto the dRawing and those few lines like a treasure within me. It would be around twenty years until the next encounter. At a party hosted by Jörg Langkau in Berlin, I stood, thrilled and amazed, in front of original works by Heinz Emigholz. And I discovered that he taught in Berlin and that Jörg was a stuDent of his.

"Music and Lights" (Imagination, 1982)

Anyone who thinks that music plays a subordinate role—or indeed, no role at all—in Heinz Emigholz's filmic works is wrong on at least two levels. It is present even in his early, silent works. Rhythm, beat, compression, stretto, a play with contrasts, emptiness, opulence, negative space; you can easily describe the films using terms from music theory. The fun you get from watching these films is a kind of visual hearing.

In Die Basis des Make-Up, he applies to "tonal music" the function of zooming in: a magnification in the sense of distinguishing or singling out and shifting a situation, like the orchestral music in the dark-room scene. (Emigholz does not use zoom as a camera technique in any of his films: If he wants to get closer in a scene, he just positions the camera nearer to the action.) He gives music an extremely prominent role in The Holy Bunch: In addition to two pieces by Daliah Lavi, Nikolaus Utermöhlen tailored the music perfectly to the film. And in a twist as far as visibility and transparency are concerned, Utermöhlen also appears as an actor.

In his more documentary-style films, particularly in the series "Photography and beyond," Emigholz foregoes both an additional soundtrack and a voiceover. I say "more," because there is little sense in distinguishing between documentary films and feature films in his oeuvre. But here too, in addition to the rhythm, beat, and so on in the image, the role played by the soundtrack is of similar importance to that played by the image track. The sound locates the structure in space and places it within an unambiguous temporal context: Fifty years ago, shoes on asphalt sounded different from today, and in fifty years' time, we will hear the hum of an electric car rather than an internal combustion engine. Ultimately, what we hear in the finished film is not just noise that happened to be present; although it is indeed the sound that was "there" during the shoot, this does not correspond to the image at every point. Instead, it has been specifically selected, inserted, composed by Emigholz during post-production.

In the masterful Streetscapes [Dialogue], the voices nestle up to one another, playfully interact, dance around each other—an unbroken dialogue in the form of a mathematically defined virtuoso fugue that spreads out (unlike the characters talking over each other in Alain Resnais' Last Year in Marienbad, for example, which is a hesitant, nebulous loop). It is a surging noise, a euphoric and euphorizing intoxication in the sense of searching for routes and escape routes, answering questions and throwing up new ones. And when the film comes to an end, the sound remains within the viewer as a symphonic reverberation.

The Airstrip (2013)

The Airstrip is part twenty-one of "Photography and beyond" and part three of Heinz's series about concrete architecture, "Decampment of Modernism." So, by 2013, you could take a fair guess at what the film would give you. But what you actually got was a surprise. The film seemed to be the last in the series of architecture films, as Heinz himself said in 2013, "The Airstrip is intended to conclude the series while also serving as a summary. [It comprises] sequences around the world showing architectural structures that I love." On the other hand, you could imagine that this is what the beginning might have looked like, the initial film about architecture that was planned but never came to fruition: part zero, and the series came in its place.

The Airstrip tells the story of the twentieth century alongside thirty-four structures of concrete architecture. In a journey around the world the focal point is the Second World War. The first surprise was that the film opened with a voiceover that was then heard at irregular intervals throughout the film. It spans a narrative arc without explaining what we are seeing, or indeed what we should be seeing, but rather reflecting the image, entering into a dialogue with the structures, and opening up what cannot be seen. The voice, Natja Brunckhorst's (we will also encounter her in other films), is of course that of the director. By around fifty-three minutes into the film, we have accustomed ourselves to the "voice" and find ourselves in a department store in Montevideo, where she says the following: "Meat and music. I do not like music in documentary films. Its use should be banned by law. The world has come to an end when you can predict each musical sound and arrangement beforehand." Then comes a cut. There is the sound of music. Kreidlermusic. "Moth Race." In a surreal scene at Montevideo airport: Pieces of meat and devotional objects fly around the corner. After that, artifacts increasingly creep into the film: the photograph of a soldier (from the film On Board USS Ticonderoga) at Mexico City airport, a man on the beach wipes sand from the same image on a buried monitor, atom bombs in Brasília airport and twice more we hear Kreidler music. Once, the song "Sun" accompanies images of a deserted mall, and finally "Rote Wüste" (Red Desert) plays during the journey to the eponymous airstrip for Northfield Memorial on Tinian. Heinz commented: "That could surprise a few people who correctly think that I have something against music in documentary films. I see the pieces as becoming part of the dialogue."

Den (2012)

Spring 2012. I had been in contact with Heinz Emigholz for the past few weeks. In April, I had the upcoming Kreidler album sent to him. On the twenty-fourth of April at eight thirty-four, he wrote me: "the new pieces are great, thanks. I'm about to go to Gozo for a week and I'll take them with me and study them, but I have an idea of what I can do with almost all of them in film." We met in May, and Heinz showed me the footage he'd shot for The Airstrip on the Northern Marianas. A twenty-one-minute journey through the jungle on Tinian to the place where the airplanes carrying the two atomic bombs dropped on Hiroshima and Nagasaki had taken off. Parallel to that, Heinz played our eight-minute-long piece "Rote Wüste." As far as I was concerned, up to that point a video edit had meant reducing a piece of music to three minutes thirty. Heinz requested thirteen additional minutes. I found them in our recording sessions and studio outtakes and cut the music to fit with the footage. In the following months, we went through the whole album. Den came out on the fifth of October 2012. For the piece called "Cascade," Heinz chose a showering Claus-Wilhelm Klinker being observed by John Erdman, while "Deadwringer" accompanied Klinker and Bernd Broaderup shaving each other—both scenes from The Basis of Make-Up. "Sun" showed a further scene from the Northern Marianas: an abandoned mall on Saipan, reminiscent of Ettore Sottsass's kitchen fittings. "Moth Race," as mentioned above, was at Mexico City airport. "Celtic Ghosts"—extended from one and a half to three and a half minutes came with an excerpt from Goff in the Desert. And finally, "Winter" accompanied unedited material from Schenec-Tady—and unedited means that even the dance the images perform to the music was present in the silent footage.

The entire album. "All the music clips combined create something like a mini-retrospective of my films," said Heinz.

The Last City (2020)

Right at the start, the film makes a statement about what's going on. In the desert, a cyborg takes up a brief, wistful lament while orbital gliders dash back and forth along the horizon. Sunrise or sunset, it's one and the same. Cut to some ruins, people; cut to an airplane from the twentieth century. Artifacts.

Heinz Emigholz chose "Radio Island" from the album European Song (2018) for The Last City. It's a resounding, angry Kreidler piece in a relentlessly clattering rhythm that drives forward a faltering shuffle, skidding, and braking—complete with erratic bursts of brief synthetic wailing as the sole opportunity for a hook line. Like a machine that senses its limits after decades of unceasing operation, it hurts but it doesn't give in. In the film, "Radio Island" is the time machine, visible only as music. It too is somewhat out of sync, brings dirt and shards in its wake, allows them to fall where they do not belong, no longer runs smoothly, confronts the actors with their younger or older selves, who, pushed into this dual role, can just about recognize themselves by means of their gender and silhouette; it dispatches them into traffic accidents and a drug-fueled twilight, dissects them without anesthetic.

I'd split our piece into its separate tracks and recombined them scene for scene. "Radio Island" picks up the pace of the film, distorts the images at the interfaces to temporal and spatial boundaries, then releases them once more. The retarding element in music is a question mark that allows the listener to briefly pause, with the recurring wailing and rumbling resonance serving both as an anchor, a moment of reflection, and simultaneously as the careening opening of the next scene.

The Last City is a science fiction tale for the contemporary era. It is a dark comedy that plunges into the limits and depths of the twentieth century, where everything has become merchandise, everything is traded and negotiated. The Last City is a pugnacious plea for science, for the beauty in what is broken, for a society without taboos. The film happens to end on something of a conciliatory note, trundling around a black hole—an jouissance impossible—in an elliptical movement. Sunrise or sunset, it's one and the same, beginning from the start again.

2+2=22 [The Alphabet] (2017)

We planned to celebrate Kreidler's twentieth anniversary in 2014 by producing a special LP—a special production at special locations, while documenting the creative process on film. Cockiness and an overabundance of ideas led to a construct that spanned the continents, an endeavor unmatched in its intricacy. Fortunately, we abandoned the whole thing when I was reminded of the legendary recording space at the film studio in Tbilisi. I only knew of it through hearsay, and was going to visit it in the summer of 2013 mapping out with film-making friends in Tbilisi what the film could look like. As early as spring, it became clear that the latter task would be an endeavor unmatched in its intricacy. Heinz and I were at the dinner table in Berlin when he broached the matter: He had heard that we wanted to record our next album in Tbilisi, and Heinz made a concrete suggestion for what the accompanying film could look like, sketched out for me on a napkin. I could only say yes. That summer was the first time I saw the recording space on the Kartuli Pilmi site, one of the oldest film studios in the world, and I could only say yes to that too. In October 2013, the band set off to record the album ABC, and Heinz set off to shoot his film 2+2=22 [The Alphabet].

My son Nika and I were already in town when Heinz flew in from Israel. It was a few days before recording started. We showed him our favorite spots—what became the initial locations for the shoot.

Georgia has a special significance for Kreidler, in particular for Detlef and me. We know the sounds of Tbilisi well. We've been in love with the city since our very first visit: In 2000, we played (and deejayed) as Binford at the country's first techno party. And incidentally, that's where we got to know Jörg Langkau. It was a confusing encounter. In 2003, Kreidler played in a glamorous casino. In 2012, I sent Heinz photos from the city. StuDents of his came from Tbilisi.

Heinz and Till Beckmann set up the camera. Till had been involved in almost all of Heinz's productions since 2007: camera assistant, original sound, editing, post-production.

We were relatively free to decide where we would be in the room. I asked Heinz if he had a particular preference. Sixty broken lightbulbs had to be replaced (in the film you can see that didn't entirely work out). Two days were spent filming in the studio, and beforehand, between, and afterwards on the city's streets. Heinz and Till observed, filmed, changed positions. They moved around us quietly, never forced themselves between us. A stereo mix of live recordings to be aligned with the camera; Alex and I subsequently edited the multitrack recordings for the film track.

Even while he was pushing the napkin towards me, Heinz remarked that he was mulling over the question of how music is created: how, and maybe where too? What are the conditions...?

You regularly come across the number two in Heinz's oeuvre: in films, books, dRawings, but also in his biography. But the "2+2" in the title is obviously also a replica of Godard's film 1 + 1 (1968), in which we see the Rolling Stones in the recording studio working on the song "Sympathy for the Devil" (although Godard did miss the crucial moment when it was transformed from a folksy blues number to the "Sympathy for the Devil" that we know). "The fact that the work of the Rolling Stones has received ever more acclaim as they have steadily progressed, while Godard's productions have conversely aged badly as historical documents, could be regarded as a remarkably divergent correlational movement over time. That could happen to this film, too," observed Heinz in his production notes. I'd say that's unlikely, because as Heinz also wrote: "Instead of the eye-catching ideological political pop macramé of One Plus One, 2+2=22 [The Alphabet] features an objectifying portrait of the city."

I don't know if Heinz answered his own question with 2+2=22 [The Alphabet]. What he was able to observe about us was the way in which music emerges through dialogue in a group process with changing dynamics. That might not have been how it originated, but it's one possible approach to it. Working with singers who recreate Georgian choral music on three of the album's numbers was a concrete way of dealing with the local setting of the recordings; as was Thomas's assembling his drum kit on location. The recording space, knowing the city and being familiar there, Tbilisi friends, communal evenings, it all created an atmosphere that was transferred to the music. In 2+2=22 [The Alphabet], the scenes in the studio, the notebooks, Natja Brunckhorst's voice as the narrator, the footage in the city—along with all the city noises—flow into each other. Here smooth, there confrontational. Mechanical rhythms, repetition, an entangled, contrary, and layered style of composition all visually and acoustically reflect the urban space where they were created, and which is the condition for their existence. One big dialogue. And at least music "can" be created under these circumstances.

The Basis of Make-Up (IV) (2021)

May 2021. Heinz has invited me round to his place. Fish is being served. After the food, we take a look at a few excerpts from a rough cut of The Basis of Make-Up (IV). Heinz hands me a wonderful drawing in colored pencil that sets out the musical elements in the film. It reminds me of Peter Saville's alphabet for New Order in 1983.

We've been talking about the film for the past few years. It's taken several detours along the way. Early on, Heinz wanted Kreidler to compose a pounding piece that would run throughout the planned three-hour-long film. That was supplemented by the idea for an alternative, second version of the film without the music track, one which Kreidler could play along to live. It was a fabulous challenge. When some of our pieces are played live, they can run for as long as ten or fifteen minutes, but I can't remember a Kreidler concert that went over one hundred minutes. It seemed to me that "Mento," a piece that is illuminated in detail in 2+2=22 [The Alphabet], was a good place to start. Of course, there was also the idea of establishing a link between the two films. "Mento" has a driving rhythm, but we've always felt like it was the result of a somewhat lost and aimless studio session, so it didn't make the cut for ABC. But now—rethinking it "for" and "in" a film beyond the necessity of producing something that would be suitable for an album and instead would work as a three-hour-long piece of music—this seemed exactly the form that "Mento" demanded.

We would probably have constructed "Mento" from shorter segments on the computer: Alex had the idea of playing live two or three times throughout the entire film (accompanying a projected version) and selecting the best moments, recording overdubs. Though, "Mento" would still have felt like a live session. I arranged a dozen song samples that were supposed to illustrate how the dynamic of the piece might work, and I sent them to Heinz. He liked the short sketches, and they triggered a new idea. On the telephone, he asked for 170 miniatures. We both laughed. But I felt that moving away from the drastic nonstop pounding for 180 minutes—which undoubtedly would have fundamentally shaped the visual nature of the movie—now liberated the film. It was taking a new direction, one in which band music seemed no longer to be the right choice. And Alex and I set about creating a soundtrack.

In its final form, the number of musical elements had more than halved; some were only a few seconds long. There's music in the notebook scenes and the two perfume scenes. The scenes recorded in the cities (Buenos Aires and Berlin) retained the ambient urban sound.

We see 170 notebooks in the film. In nine sizes. Chronological. Often there are several combined in a single scene. Yet the sequence of the notebook sizes does not always correspond to the chronology of when they were created: The formats jump to and fro. In the colored pencil drawing, Heinz assigned each size a different color, which gave the film an underlying, secret order. Alex suggested tracing this structure musically by developing a tonal scale in just intonation for each color (with an additional one for the perfume sequences).

In each of these nine tonal scales, we composed a piece that we then disassembled and rearranged to fit its appearances in the film (in accordance with the color system). "Probably," speculated Alex, it is "the first Western feature-length movie with a microtonal original soundtrack." Working with individual tonal scales in just intonation is an artificial construct, but is nonetheless closer to the sounds that could be heard (and seen) in the street scenes than the well-tempered Western tone. In terms of style, we kept things rhythmic. We took out the pounding and inserted disco.

"Cruisin'" (Smokey Robinson, 1979)

In the way Heinz understands music in film (or "with" film), the two art forms have to mutually enrich and augment each other. The music and the image raise questions that perhaps wouldn't have surfaced with either of them alone.

In particular, he does not want to hear music in a documentary film; it was permitted in The Airstrip because (there) it becomes "part of the dialogue"—similar to what happens in rock music when the singers run out of words and the guitar solo takes over. Furthermore, with The Airstrip, it also happened in a film where the viewers just came to understand that Heinz does not accord any significance to boundaries between genres. (InciDentally, everyone should realize that there is no such thing as a "purely" documentary film, free of staged elements.)

The use of music makes a scene more precise, situating it, or taking on an object-like function that is not visible in the image, such as in The Last City or like Daliah Lavi "in" the Kumpelnest bar in The Holy Bunch. Of course, it's a quotation there too.

Music shouldn't take its audience for stupid and dictate to them how they should see a scene like in impositions such as Yann Tiersen with Amelie, Philip Glass with The Hours, John T. Williams with his perfidious Wagnerian battaglias, and Hans Zimmer with his sonorous megalomania. If the picture isn't powerful enough, maybe the director should change their profession.

Heinz's treatment of music is controlled, but that doesn't mean he's not open to surprises too: A physicality and leaning towards sensual devotion can always be detected. And of course, he's also experienced enough as an artist, craftsman, and human being to know how he can generate these situations.

º

It is the twenty-fifth of January 2012 at zero fifty-nine. Drawings from Die Basis des Make-Up dance in my head accompanied by Kreidler music. A ring tone. A beep. Another beep. One more. At the other end Jörg Langkau picks up the receiver.1

1 Heinz with Mick Jagger in Studio 54; Heinz on tour with Nico; Heinz designs an album cover for Kreidler; Heinz on the dance floor at Berghain Kantine; Heinz on the Multiverse cassette; where "Cruisin'" played and where it will play: more on all that in the next catalogue.

 


Gabriele Stötzer


In der Reihe: Der beschwerliche Reichtum. | Unabhängige Künstler*innen im Berlin der 1980er Jahre und heute
Kuratiert von Alexandra Weltz-Rombach

Unsere nächste Ausstellung widmet sich Gabriele Stötzer, der wohl wichtigsten Künstlerin der DDR. Ihre Bedeutung wurde einer größeren Öffentlichkeit erst nach dem Ende dieses Staates gewahr, vor allem durch ihre zahlreichen Buchveröffentlichungen. Bis 1989 hatte das Ministerium für Staatssicherheit sein Möglichstes getan, ihre Sichtbarkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Erst über die letzten Jahre wird auch ihr visuelles Werk der 1980er Jahre wiederentdeckt, und mit Staunen sieht man, wie dieses nicht nur nichts an Strahlkraft und Inspirierendem eingebüßt hat, sondern auch wie Stötzer in ihrer Arbeit Fragen aufwarf und zu Ergebnissen fand, zu denen nachfolgende Künstler*innen erst noch kommen sollten.

Gabriele Stötzer (auch Gabriele Kachold) Lebens- und Arbeitsmittelpunkt lag (und liegt) in Erfurt. Nach einer Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin begann sie Mitte der 1970er Jahre ein Studium von Germanistik und Kunsterziehung. Zu dieser Zeit entstanden erste Kontakte zur (freien) Literatur- und Kunstszene in Jena.
Im Sommer 1976 geriet sie ins Visier der staatlichen Behörden, sie hatte sich in einer Petition gegen die Entlassung eines Studenten eingesetzt, woraufhin sie selbst von der Hochschule relegiert wurde und als Form einer "Bewährung" in einer Fabrik arbeiten musste. Aufgrund ihrer Beteiligung an einer Unterschriftenaktion gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, später im selben Jahr, nahm sie die Staatssicherheit in Untersuchungshaft. Nach fünf Monaten wurde sie wegen Staatsverleumdung zu einem Jahr Gefängnis im Zuchthaus Hoheneck verurteilt.
Mit ihrer Entlassung wurde ihr die Ausreise in die BRD angeboten. Sie lehnte ab, was erneut eine Bewährungsstrafe in einer Fabrik zur Folge hatte; von nun an stand sie unter ständiger Überwachung der DDR-Sicherheitsbehörden.

1980 übernahm sie die Galerie Im Flur, die zu einem wichtigen Anlaufpunkt der freien, nichtorganisierten Kunstszene werden sollte, und genau aus diesem Grund 1981 von der Stasi geschlossen wurde.

Nun wollte sie nicht mehr zulassen, dass etwas sie von ihrem künstlerischen Arbeit abhalte. Im Gefängnis hatte Gabriele Stötzer bereits mit dem Schreiben begonnen — bis 1989 boten Untergrund-Publikationen ihr die einzige Möglichkeit, zu veröffentlichen, darüber entwickelte sie aber mit auf persönlich biografischen Begebenheiten aufbauenden experimentellen, feministischen Texten ihre ganz eigene Stimme. Daneben rückte das Arbeiten mit Film, Performance und Mode in ihren Fokus; Stötzer war Mitbegründerin der (Frauen-)Punkband Erweiterte Orgasmus Gruppe und vor allem auch der KünstlerInnengruppe Erfurt.

Die Befragung des eigenen Körpers wurde ein zentrales Thema ihrer Arbeit. Die BürgerInnen der DDR pflegten ein relativ ungezwungenes Verhältnis zu Nacktheit, omnipräsent in der FKK-Kultur (eben nicht im Sinne des kapitalistischen Sex sells); Gabriele Stötzer und ihre Kolleginnen trugen das aber mitten in die Städte: Körperlichkeit, Sichtbarmachen, Entkleidung und Bekleidung stand im Zentrum ihrer Performances, photographischer und filmischer Arbeiten.

Stötzers Fotografien liegen meist zusammengefasst in kleinen Reihen vor, sortiert in Werkgruppen, die formal wie inhaltlich miteinander kommunizieren. Abbildungen von weiblichen Protagonistinnen, ihrer Künstlerinnengruppe, mal Freundinnen von ihr, singulär oder vereint, bei Performances oder künstlerischen Modeschauen, am Posieren, bei kleinen Inszenierungen und Aktionen. Stötzers Blick changiert zwischen einem eher spontan momenthaften, dokumentarischen und einem präzisen, wenn es gilt, eine Aufführung nur für die Kamera abzulichten.

Bei Galerie Auslage werden wir Gabriele Stötzers fotografische Dokumentation einer Performance von Cornelia Schleime zeigen (1983).

Ausserdem: Lokalbestimmung (1984), eine von ihrer frühen Arbeiten auf Super-8, produziert im Zeitraum von 1982 bis 1984.

Gabriele Stötzer hat in den 1980er Jahren über ein Dutzend Super-8 Filme produziert, einen Teil davon gemeinsam mit der KünstlerInnengruppe Erfurt.
Lokalbestimmung führt von Erfurt über Jena nach Berlin. Die Filmbilder erklären sich nicht: schwarz-weißes und farbiges Filmmaterial wechseln sich ab; die Aufnahmen zeichnen die drei Städte nicht sonderlich aus, nur der Turm in Jena ist eindeutig zuzuordnen; Auswahl und Sequenz der Einstellungen scheint erratisch.
Es ist eine Art von flanierender Bewegung, Architektur als Hinter- und Untergrund für Schnee, Straßenverkehr, Arbeit und Privates, eine Frau schiebt in drohender Neugier die Gardine zur Seite. Meist aber sind es Bilder von Freundinnen, über die Straße gehend, vor Bauwerken verharrend, in salopper Inszenierung; als Finale eine Treppe hinauf und hinunter, ein Werfen und Abklappen über die Balustrade, zwischen spielerischer Geste und Erschöpfung.
Ein poetischer Text, aus dem Off von Gabriele Stötzer gesprochen, umfasst die Szenen und öffnet sie in eine weitere, größere. Ihre Worte sind selbstreflexiv, von lakonischem Ton, in einer gewissen Traurigkeit, ihr Sprachgestus ist nüchtern-betrachtend, sie kennt ihren Text, aber es geht jetzt um diesen Moment, in dem sie ihn liest, sie verhaspelt sich mal etwas, mit leichtem Akzent. Die Stimme mahnt ein Weitermachen ein, an sich selbst, all dem Schmerz zum Trotz, ein Weitermachenmüssen, Weglaufen nicht gelten lassen, auch wenn es da einen Raum zu geben scheint, hinter der verbotenen Tür, aber die zu durchschreiten verbietet sie sich.
Die Tonspur bildet dabei nicht nur ihre Stimme ab, sondern den Sprechvorgang selbst und den umgebenden Raum. Wo sie im Filmbild nicht als Person erscheint, so wird sie über den Ton sichtbar. Wir können die Größe ihres Zimmers vermessen, wir hören ihr Lesen, ihr Blättern, ihr Umblättern, wie sie Seiten heraustrennt, sie kleiner reisst, flachklopft, in immer kleinere Stücke zerreißt, als wolle sie keine Spuren hinterlassen. Es gibt keinen Grund, Spuren auf Papier zu hinterlassen, wo sie doch alle jetzt im Film sind.

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Gabriele Stötzers Stasi-Akte ist in weiten Teilen erhalten geblieben, und sie gibt gruselige Einblicke in die Arbeit des DDR-Inlandgeheimdienstes, am gespenstischen die Berichte des narzisstischen, als Künstler maskierten, pathologischen Lügners IM Sascha Anderson.

Als Stötzer von der Staatssicherheit der "Vorschlag" unterbreitet wurde, in die BRD auszureisen, nahm sie ihn nicht war. An der Vielfältigkeit in der Form ihres künstlerischen Ausdrucks und an ihrem Arbeiten auf unterschiedlichsten Ebenen mag man ablesen, dass sie nicht etwa ein neues Beginnen "im Westen" gescheut hätte; ihre wilden feministischen politischen Arbeiten zeigen eher an, dass das "Experiment DDR" für sie nie erledigt war. Ihre Kritik war eine von links, aber da muss man sich auch wenig Illusionen machen, der Realexistierende Sozialismus war ein relativ wackeliges Konstrukt, die sozialistische Idee flimmerte nur schwach am Horizont, und Kritik von links schien dem Staat ihn beinahe so gefährdend wie die von rechts.

(Juli 2021)

 


ANNE JUD


Vom 29 Juli an wird Galerie Auslage als Hommage an die Künstlerin Anne Jud ihr Video zu "Sommerpause" (1980) sowie photographische Dokumentationen von "Öffentliches Wohnen" (1980) präsentieren.

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Anne Jud war nach einer Schauspielausbildung in Zürich und Wien 1974 nach Berlin gekommen, wo sie 1976 ihr künstlerisches Arbeiten begann. Von 1977 bis 1981 war sie Mitglied der Galerie am Moritzplatz. Ihre Performances bevölkerten den West-Berliner Stadtraum der 1980er Jahre.

Bis Anfang der 1990er Jahre arbeitete Jud auch als Kostümbildnerin, so in Theaterproduktionen unter der Regie von Peter Stein oder Julia Siemers, in Filmen von Elfi Mikesch / Monika Treut, Ulrike Ottinger, Monika Funke Stern oder Rosa von Praunheim und in der Kostümassistenz mit Gisela Storch bei Jean Jourdheuil, Werner Herzog, Thomas Brasch oder Anthony Page; von 1987-1991 unterrichtete sie Kostüm an der Berliner HdK.

Neben objekthaften Arbeiten — vor allem Collagen, Assemblagen, möbelartigen Gegenständen und ein paar Filmen — bildete Performance ein Schwerpunkt ihrer künstlerischen Tätigkeit.

Natürlich ist Performance ein zeitbasiertes Medium, für manche ihre Arbeiten dehnte Jud das aber über den im musealen oder Galerien-Kontext erlaubten Bereich hinaus aus. Konsequenterweise arbeitete sie dafür im öffentlichen Raum. So ließ sie sie sich 1979 für 24 Stunden im SO 36 einschliessen ("Eine Nacht eingeschlossen im SO 36"). Die im folgenden Jahr ebenso auf 24 Stunden angelegte Performance "Öffentliches Wohnen" auf der Naunynstraße musste sie nach Angriffen von benachbarten Hausbesetzern abbrechen, führte sie aber über in "Sommerpause" (1980), wo sie dann 24 Stunden auf einer Couch auf einer Brache in der Nähe des Potsdamer Platzes verbrachte. Anne Jud wurde von Freund*innen besucht und versorgt und dokumentierte Begegnungen und Begebenheiten in diesem Zeitraum; neben des intensiven weil andauernden Aussetzens und Ausstellens des eigenen Körpers (und Geistes), war ein Aspekt dieser Arbeiten auch die Interaktion mit zufällig vorbeikommenden Passanten.

Man sollte den Ton in ihren Performances nicht außer acht lassen: sei er konkret — beispielsweise in der Form eines Soundtracks, wie der von DIN A Testbild für "Karo" (1981) oder der von Gudrun Gut für "'Ad Acta' Die vier Jahreszeiten" (1986, und zwei sich daraus entwickelnden Arbeiten in 1988), oder als elementarer Bestandteil der Performance, wie die zerberstenden Spiegelplatten bei "Eiskalt" (1987) oder die Windspiele in "Säulen-Installation" (Schlosspark Charlottenburg, 1992), oder auch mehr oder weniger präsent, so die an- und abschwellenden vor- und zurücktretenden Klänge des urbanen Raums — oder abstrakt, als Gedanke anwesend, so in der Wahl der Orte ihrer in Innenräumen stattfindenden Performances, wie den Konzertsälen SO36 Berlin oder Alter Wartesaal Köln.

Ein halbjähriger Studienaufenthalt 1975/1976 in USA und Mexiko nährte Anne Juds Faszination für Amerika. In ihren Collagen und Assemblagen verarbeitete sie über Jahrzehnte hinweg US-Amerikanische Dollarnoten (später auch Briefmarken); sie sezierte sie, benutzte sie als Rahmungen, vernähte sie 1980 für eine Performance zu einer Jacke, schneiderte Anzüge, die sie seriell bedruckte, verwendete sie in der Mode-Edition "Masterpieces" (1986, mit Claudia Skoda), kopierte sie auf transparente Folien wie bei "Foto-Aktion mit Dollar-Klarsicht-Form-Kleid" (1979) oder der Performance "Der Fechter ist gefangen" (Budapest, 1981) oder verwandelte und überhöhte Objekte, Möbel und Alltagsgegenstände, die sie mit Dollarnoten beklebte und bedruckte. Dabei schwingen Momente affirmativer Überhöhung und eines kritischen Blicks nebeneinander, ergänzen sich, überschneiden sich, widersprechen sich.

In ihrer Biographie erscheint es so nur stimmig, dass Anne Jud Mitte der 1990er Jahre ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt nach Solvang, USA verlegte, wo sie den Chirurgen Wolfgang C. Hallauer heiratete und das Artstudio on The Hallauer Ranch öffnete. 2016 verstarb sie unerwartet an einem Aneurysma.

(Juni 2021)

 


In Leder (Galerie Auslage)


Galerie Auslage zeigt Käthe Kruses In Leder — ein in Leder gefasstes Schlagzeug. Die Arbeit nimmt Bezug auf Kruses objekthafte Produktionen, die in den 1980ern für die Gruppe Die Tödliche Doris entstanden sind. Jenseits von Nostalgie hat sie Kostüme und Instrumente für das neue Jahrtausend in zeitverschränkte Artefakte transformiert. Entkleidet vom Reliquienhaften präsentieren sie sich als Kunstwerke eigener Originalität.

Mit Anfang 20 verließ Käthe Kruse ihren Geburtsort und machte sich auf den Weg. In einem verwegenen Bustrip über Südeuropa, die Türkei, den Iran erreichte sie Indien und Nepal. In die beschauliche westfälische Kleinstadt mochte sie danach nicht mehr zurückkehren und ließ sich 1981 in Kreuzberg nieder, Westberlin. Berlin allegorisierte das in Warschauer Pakt und Nato geteilte Europa; und Westberlin — mit seinen verlassenen, verfallenden Gebäuden, Kohleöfen und Hundekot, der desolaten Ökonomie, einer brutalen Drogenszene, und von einer Mauer umgeben — schien das fortwährende Grau der deutschen 1950er, 1960er, 1970er Jahre wie in einer überhöhten Karikatur zu apostrophieren. Aber in der kargen, rauhen Enge gab es Leere und Räume. Waren Dinge möglich, wie woanders nicht. Man musste es nur selbst in die Hand nehmen, um aus der gegebenen Unordnung seine eigene Unordnung zu schaffen. Der Himmel über der Stadt stand weit offen, und Westberlin wurde zu einem Sehnsuchtsort westlicher Künstler*innen.

Im Dezember 1981 stand Käthe Kruse als schwarzgoldener Engel auf der Bühne des SO36 und lernte Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen kennen, die sie zu Die Tödliche Doris einluden; die drei bildeten fortan die Kernbesetzung der Künstlergruppe, die zu einem Hauptakteur innerhalb der Genialen Dilletanten wurde — des experimentellsten Austriebs der experimentellen Berliner Postpunk-Szene der 1980er Jahre.

Das Ensemble trat je nach (selbstbestimmter) Anforderung mal als Kunstkollektiv, mal als Schauspieltruppe, mal als Band in Erscheinung; mit dem Ineinandergreifen von Musik, Text, Performance, Video und Malerei entwickelte es neue Formate und lachte über gegebene Ordnungen und über Versuche, sie in herkömmliche Kategorien einzuordnen. Die Tödliche Doris hatte Auftritte im MoMa, im Pariser Musée d'Art Moderne oder auf der documenta 8. Sie manifestierte sich in performativen Auftritten und Filmen, auf Tonträgern — von Vinyl, Kassetten oder CDs bis hin zu Plastikspielzeugplatten nebst Abspielgerät oder einem "unsichtbaren" Album — , aber auch in Medien wie Buch, Malerei und schließlich als Wein — in dem sie sich 1987 (geplant) auflöste.

Käthe Kruse hat diese Zeit erlebt, durchlebt, überlebt, sie weiss, dass diese Jahre ihre Person und Charakter geformt haben, von einer Romantisierung oder Verklärung der 1980er ist sie aber weit weg. Sie weiss auch um die Umbarmherzigkeit der Jahre und um die verstorbenen Weggefährt*innen. Eine Art von Verbürgerlichen hat sie vielleicht davor gerettet: sie heiratete den Schweizer Autoren Yves Rosset, hat zwei Töchter mit ihm; ihren genossenschaftlichen Anteil an dem legendären, ehemals besetzen, Künstler*innen-Wohnprojekt auf der Manteuffelstraße, hat sie verkauft, ist mit ihrer Familie um die Ecke gezogen, ins Private.

Ihr künstlerisches Arbeiten hat sie dabei nie aufgegeben. In definierten Werkzyklen arbeitet Kruse mit unterschiedlichen Materialien und Medien wie Film, Fotografie, Malerei oder Wolle. Sie präsentiert ihre Arbeiten in raumfüllenden Installationen, oft erweitert um Performances. Und wie sie in diese seit 2011 regelmäßig ihre Töchter Edda und Klara Kruse Rosset mit einbindet, trägt sie ein Stückweit das Private zurück ins Öffentliche.

Musik spielt immer eine Rolle, sei es wie bei ihrem Album »Le Sexe Rouge« von 1997, das sie über Jahre hinweg Song für Song installativ umsetzte, oder eben bei In Leder, ihrem Schlagzeug, das sie für eine Ausstellung 2013/2014 in der Zwinger Galerie in ein lederbezogenes Objekt verwandelt hatte. In einer Performance erweckte Kruse, in ein hängendes, begehbares Lederkleid gewandt, wiederum das Schlagzeug unter dem Objekt — in einem doppelten Wiederum war nun der Klang transformiert.

Biographie

Käthe Kruse wurde 1958 in Bünde/Westfalen geboren, sie lebt seit 1981 in Berlin
Von 1982 bis 1987 war sie Mitglied der Gruppe Die Tödliche Doris, mit Auftritten unter anderem im MoMA, New York, im Musée d'Art Moderne, Paris, im Club Quattro, Tokio oder auf der documeta 8, Kassel
Von 1990 bis 1997 studierte Kruse Visuelle Kommunikation an der Hochschule der Künste Berlin; Abschluss mit Diplom als Meisterschülerin von Bernhard Boes und Heinz Emigholz
Seit 1987 Einzelausstellungen unter anderem bei Zwinger Galerie, Berlin, Kagan Martos, New York, in der Kunsthalle Bremerhaven, oder in der Galerie der Stadt Schwaz, Tirol, Österreich
Performances unter anderem im Walcheturm, Zürich, im Gracia, Barcelona, in der Nationalgalerie Berlin, im Hamburger Bahnhof Berlin oder im Neuen Berliner Kunstverein
2020 fand die Doppelausstellung Ich sehe in der Galerie Nord/Kunstverein Tiergarten und 366 Tage in der Zwinger Galerie in Berlin statt. Begleitet von einem Katalog mit Doppel-LP im Distanz Verlag, Berlin. Ihre Einzelausstellung Danke! Die Tödliche Doris zeigte sie im Circuit, Centre l'Art Contemporain, Lausanne
2021 erhielt Käthe Kruse den eigens für sie eingerichteten PeterJacobiWerkPreis der Peter Jacobi Stiftung für Kunst und Design, Pforzheim

(Mai 2021)

 


Sølyst — Spring (Bureau B)


«Sss—p—riiiing!» — ein Besen kratzt langsam am Blech entlang, ein Glöckchen hallt nach.

«Sprrnnng!!» — eine zurückgelassene Eisen-Stele antwortet in rostender Klage von der nahen Industriebrache.

«Spriing!!!» — etwas bricht auf. Unter unseren Füßen dröhnt die U-Bahn. Oder ist es die verborgene dunkle U-Bahn unter der U-Bahn, gleich dem dunklen Strom unter dem Fluss, gleich dem dunklen zweiten Meer unter dem uns sichtbaren?

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Spring ist Thomas Kleins vierte Veröffentlichung auf Bureau B als Sølyst. Er versammelt hier Material aus den letzten drei Jahren. Und diese Zeit, die er mit den Stücken verbracht hat, wie er sie wieder besucht hat, neu befragt hat, Dinge ausgeschlossen, verworfen, Anderes geöffnet, überarbeitet, Passagen vergrößert, andere entschlackt hat, diese Zeit hat den Stücken bestens bekommen.

Als Ausgangspunkte wählt er Sequenzer und Sequenz; knatternd, nicht zu schnell, in tieferen Tonlagen und in Moll. Drum herum faltet er programmierte Drumpatterns, Perkussions, viel Metall und manchmal plötzlich hereinstürzend ein schepperndes Schlagzeug wie in dem schimmernden Flex oder in Hold. Echo und Hallräume, Phaser und Flanger nimmt er als Klebstoff: Spring, die Spirale, die flexible, gehalten, die Feder, er dehnt sie, krümmt sie, biegt sie, macht sie dem Signalfluss gefügig. Über das hypnotische rhythmische Gerüst legt er Einzelklänge und stehende Flächen, Melodien entdeckt man auf der Nanoebene in den Übergängen der Schichten, in Andeutungen, als Anspielungen.

Klein nutzt all diese Elemente und baut mit ihnen eine cinematische Stimmung auf, Kino wie Serie, des eher schweren, unterschwellig Dunklen. Aber nicht in aggressiver Bedrohlichkeit, sondern in geisterhafter Anmutung, in einem unheimlichen Vorahnen — oder in dem wohligen Schauern, das einen befällt, wenn ein Gewitter sich am Horizont ankündigt, und man sich vorbereitet, sich freudig dem Spektakel aus Blitz und Donnerschlag hinzugeben.

«Spring!» — eine lilafarbene Knospe bricht auf. Wenn sie einen Frühling ankündigen sollte, dann den, der uns zurück teleportiert in eine Zeit vor dieser Zeit, oder nach vorne ins nächste Jahr, ins nächste Jahrzehnt hinein, so oder so zurück in unseren nachthellen feuchten Club. Wir haben Dich sehr vermisst.

Lichtscheu Tanzende, Teer an den Schuhen, Blitze, Schwarz-weiß ist unsere Farbe. Spring zeichnet die Nacht bis in den späten Morgen hinein, und ist genauso der Soundtrack eben dieser Nacht: nimm Sheroes, spiel' es zwischen Martin Rev und Chris & Cosey, nimm Atlas spiel' es nach — mit Verlaub — Tolouse Low Track. Und bevor sich die Türen wieder öffnen, nimm Spiral. Am verführerischsten in allen Stücken sind die Momente, wo Klein die Funktionalität, den Groove, los lässt und den Raum weit öffnet in ein freies atmosphärisches Schweben. Hinein, bis in den späten Morgen.

Spring reiht sich ein in die Genealogie der drei Vorgängeralben — Sølyst (2011), Lead (2013), The Steam Age (2016) —, und nicht, dass an diesen etwas falsch wäre: aber Spring denkt Klein am weitesten, Spring zeigt ihn von seiner souveränsten Seite: er lotet die Grenzgebiete aus des Rahmens, den er sich mit Sølyst gesetzt hat. Und jedes einzelne Stück auf Spring gibt einem das Gefühl, hier ist ein neuer Beginn, jetzt startet Sølyst.
Kein Halten! Spring!
Spring mit!

(März 2021)

 


Beschwerlicher Reichtum (Galerie Auslage)


Leman Sevda Darıcıoğlu, Hanna Frenzel, Anne Jud, Maria Kassab, Käthe Kruse, Erin Honeycutt, Pinar Ögrenci, Elisa R. Linn, Ulrike Ottinger, Gabriele Stötzer

Kuratiert von Alexandra Weltz-Rombach, Mitarbeit: Casandra Mehlhorn

Berlin steht seit Jahrzehnten für das Versprechen eines freien, von künstlerischer Ambition geprägten Lebens.

Seit Ende der 1970er Jahre gab es sowohl in West- als auch Ost-Berlin eine Vielzahl von unabhängigen Künstler*innen, die erfolgreich ihr Schaffen vorantrieben und sich — manchmal mitten im Kunstbetrieb, manchmal an seinen Rändern — kreative Freiräume erkämpften. Einige konnten sich international erfolgreich etablieren, andere zeichneten sich durch eine dauerhafte Verortung in der Subkultur aus.

In 2021 bleibt Berlin — selbst wenn es auch hier enger wird — ein Sehnsuchtsort für Künstler*innen aus Ländern, wo kreativer und kritischer Ausdruck kaum oder nur eingeschränkt möglich ist, und wo es kaum Perspektiven für alternative Lebensentwürfe gibt.

Diese zwei, zeitlich getrennten Bewegungen untersucht Galerie Auslage mit ihrem Programm. In einer Reihe von Ausstellungen, Screenings, Gesprächen und Workshops treffen Künstler*innen, die erst kürzlich in Berlin eingetroffen sind, auf Künstlerinnen, die hier in den 1970er/1980er Jahren ihre künstlerische Laufbahn begonnen hatten. Das (Wieder-)Sichtbarmachen dieser speziellen Seite der Berliner (Sub-)Kultur soll Anregung und Inspiration sein — und dabei keinesfalls nur von damals nach heute strahlen. Im Zusammentreffen der Generationen werden Brüche und Kontinuitäten ausgelotet und unterschiedliche künstlerische Lebensentwürfe präsentiert und geprüft.

Neben Fenstern mit Werken der Künstlerinnen aus den 1980er Jahren werden Leman Sevda Darıcıoğlu, Pinar Ögrenci und Maria Kassab neue Arbeiten entwickeln, die im Schaufenster der Galerie Auslage präsentiert werden. Die Wahl des Schaufensters als Ausstellungsfläche eröffnet auch bei etwaig fortgesetzten Covid19-Auflagen Möglichkeiten des Besichtigens und der Begegnung.

Zu den Künstlerinnen (in chronologischer Reihenfolge):

Hanna Frenzel
Eine Auswahl von Hanna Frenzels Arbeiten haben wir im September 2020 bei Galerie Auslage gezeigt. Frenzel hatte vor allem in den 1980er und 1990er Jahren Furore mit ihren Performances und diese repräsentierenden Filmen und Fotografien gemacht. Verhüllen, sich Entziehen und dabei doch auf die Bühne treten, sind zentrale Themen ihrer Performances. Wir nehmen dies als Ausgangspunkt unserer Reihe.

Leman Sevda Darıcıoğlu
Leman S. Darıcıoğlu künstlerischer Fokus liegt auf dem Medium der Performance; neben lange dauernden Live-Inszenierungen entstehen auch Performance-Videos und performative Installationen. In diesen erforscht Darıcıoğlu die physischen und emotionalen Grenzen und Beschränkungen des menschlichen Körpers. Was wiederum Ausgangspunkt wird von Untersuchungen hegemonialer, politisch-gesellschaftlicher Konzepte und Normen. In Ulrike Ottingers Filmen "Madame X: Eine absolute Herrscherin" und "Bildnis einer Trinkerin" fand Leman S. Darıcıoğlu Inspiration für die Installation bei Galerie Auslage — eine Arbeit, die am zweiten Mai um eine Performance erweitert werden wird.

Käthe Kruse
Käthe Kruse bezieht sich in ihren aktuellen Arbeiten auf die objekthaften Produktionen der Gruppe Die Tödliche Doris — auf ihre Kostüme und Instrumente —, die sie für das neue Jahrtausend transformiert. Jenseits 1980er Jahre Nostalgie entstehen Artefakte, die alles reliquienhafte abstreifen und sich als Kunstwerke eigener Originalität präsentieren. Im Jahr 2013 verwandelte sie ihr Schlagzeug in ein lederbezogenes Objekt; in einer Performance erweckte Kruse, in ein hängendes, begehbares Lederkleid gewandt, wiederum das Schlagzeug — nur war nun der Klang transformiert.

Pinar Ögrenci
Pinar Ögrenci arbeitet ortsspezifisch mit Videokunst und Installation. Ihre Themen findet sie im Feld von Vertreibung, Flucht- und Migrationsbewegung — seien sie von Krieg, Staatsterror, Gentrifizierung oder industriellen Bauprojekten verursacht. Mit feministischem und dekolonialistischem Blick entfernt sie zeitliche und lokale Kontexte und stellt so Querverbindungen her zum einen zwischen Kulturen, Orten und Zeiten, zum anderen zwischen Architekturen, Literaturen und Geschichte. Neben des analytisch wissenschaftlichen Charakters zeichnen sich Ögrencis Arbeiten durch ihre lyrische Qualität aus. Als Ausgangspunkt ihrer Arbeit bei Galerie Auslage wählte sie den Roman "Die Brücke vom Goldenen Horn" (1998) der Autorin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar.

Anne Jud
Anne Juds Performances bevölkerten den West-Berliner Stadtraum der 1980er Jahre. Bei Galerie Auslage werden wir ihre Arbeit "Sommerpause" (1980) präsentieren, wo sie 24 Stunden auf einem Sofa in einer Brache in der Nähe des Potsdamer Platzes verbrachte, sich von FreundInnen besuchen und versorgen lies, und die Ereignisse in diesem Zeitraum dokumentierte.

Maria Kassab
Maria Kassabs künstlerischer Schwerpunkt liegt in Video und Fotografie. Dabei verwendet sie häufig das Bild an sich als nacktes Material, das sie mittels handwerklich/technischer Manipulation mit einer neuen politischen Narration auflädt. Für ihre Fotoarbeit bei Galerie Auslage wird sie auf Inszenierungen von Tabea Blumenschein und Claudia Skoda zurückgreifen.

Gabriele Stötzer
Mit Gabriele Stötzer ist eine Künstlerin Teil unseres Programms deren Arbeit schwerpunktmäßig in Erfurt stattfand. Nach einer Zwangsexmatrikulation gefolgt von 15 Monaten politischer Haft, wurde sie Mitglied der Erfurter KünstlerInnengruppe exteraa xx, begann mit Film, Performance und Mode zu arbeiten und die (private) Galerie Im Flur zu leiten. Neben temporären Aufenthalten in Berlin veröffentlichte sie auch in Undergrund-Publikationen der Prenzlauer Berg Kunst/Musikszene. Dabei blieb sie mit ihren feministischen und explizit politischen Performances und Videoarbeiten ständig im Visier der Staatssicherheit. Bei Galerie Auslage werden wir eine frühe Videoarbeit zeigen neben Fotografien von Cornelia Schleime, die eine ihrer Performances dokumentieren. Und wo wir die Reihe mit Verhüllen begannen, so steht hier das Entkleiden im Mittelpunkt.

Im September wird eine Serie von Veranstaltungen unsere Ausstellungsreihe flankieren. Geplant sind unter anderem Abende mit Erin Honeycutt und Elisa R. Linn, sowie eine Vorführung von Ulrike Ottingers Film "Madame X: Eine absolute Herrscherin" (1977).

Die Ausstellungsreihe wird unterstützt durch Mittel aus der Projektförderung des Bezirks Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.

(März 2021)

 


Winter 2 — Winter 2 (italic ITA118)


 

Raus aus der Tür, rein in die Straßen, unter den Schuhen knirscht der Kiesel. Der Schnee von Gestern ist geschmolzen. Grau ein paar Gedanken sind wohl noch hier. »Erst in der Distanz entsteht die Intensität dessen, was ich erlebe.« (1)

Die rechte Gehirnhälfte geht spazieren, mal kurz die linke, dann wieder zurück. Langsam treibst Du durch die Stadt, Stift und Zettel in der Hand, die Band spielt Blues (2), »vor einem Zaun und dahinter ist alles kaputt« (3), Du suchst das Leben, »Alles, was mich abschreckt, verlockt mich zugleich« (4) und schaust dann weiter, »suchst die Einsamkeit im Rausch der Menschenmenge« (5), und schaust dann weiter, siehst, wie all die Tage, den Mann, der anders ist als die anderen, vor der Bäckerei (6), Du schaust dann weiter, Bumm-bumm Bumm-da-bumm geht der Bass, geht Dein Herz, die Hände klatschen auf die zwei und vier, da ist Glitzern (7) und grünes Licht (8), wirft »Schatten an einer Wand« (9) — im Park, im Garten, Du erinnerst die Pfade, im Dämmerlicht, orchestrale Bewegungen in Richtung Japan, nein nicht das Land, die Band, dahinter der Norden von..., sorry, wie heisst das Label nochmals? Europa zumindest. (10 (11) (12)

»Freier Samstag, den es noch nicht lange gibt, melancholische Gefühle nach dem Petting,
das man schon am Nachmittag auf einer abgelegenen Parkbank oder verschwiegenen Wiese erledigt hat.«
(Olaf Dante Marx) (13)

Winter 2 sind elegisch kontemplative Betrachtungen auf treibend lakonischer Popmusik. Die Instrumentierung ist Bass, Keyboard, Gitarre und Drums, und die Musik zieht Bewegungen von Mitte der 1980er Jahre nach, dem Moment als Pop endgültig den Proberaum verliess. Alles wurde besser. Den Drumcomputer konnte man bei Tageslicht am Küchentisch programmieren, Texte in der Sonne vor der Eisdiele schreiben, die Musik im Toyota Starlet laut probehören und das Zusammenspiel auf der Bühne vor Publikum lernen. Raus aus dem Muff des unlüftbaren Kellers, die stehend feuchte Mischung aus umgefallenen Bierflaschen, überquellenden Aschenbechern und Beckensteinen von nebenan. Stattdessen ein Versprechen! Mitte der 1980er hiess das in Düsseldorf, Bielefeld oder Offenburg Hochschulpop und drängte aus irgendeinem Grund nach Hamburg. Der Versuch, aus den drei Akkorden und dem sperrigen Hochdeutsch eine andere, eine neue Popmusik zu erfinden. Genährt aus dem Songwriting, das zuvor aus Manchester und Glasgow über den Kanal schwappte, ein bisschen London auch; also Postpostpunk, also Newpop, also dessen leise Nachdenklichkeit auch, im Zweifel in Moll, also auch der Moment kurz bevor zum Ende der 1980er hin die Popmusik immer mehr zu swingen begann.

Winter 2 geht an diesen Punkt zurück und spinnt diesen Faden neu, schaut, wohin man damit heute kommen könnte. Winter 2 ist die Freude beim Wiederauffinden des verloren geglaubten Lieblingstapes. »It's a start.« (14)

Die Drums shuffeln fliessend, der Bass twang!t, schiebt sich als melodieführendes Instrument nach vorne und umgarnt den Gesang, die Gitarre, die sich als rhythmische Begleiterin versteht, bricht hin und wieder in ein goldgelocktes Jubilieren aus, der Synthesizer legt melancholische Juno-Flächen dazwischen und malt mit Presetsounds hymnische Gegenfiguren zu seinen MitspielerInnen. Kein Schlieren, kein Dröhnen, die Produktion ist klar und transparent.

Wo das Grüne Leuchten im sechsten Titel schon so schön darauf hinweist, nehmen wir Eric Rohmer als Zeugen: wie er in seinen späteren Filmen Regie zu führen schien, mit leichter Hand nämlich und die Dialoge derart, dass sie die Frage aufwerfen, ob er sie geschrieben habe, oder ob sie von seinen — jugendlichen — Darstellern und Darstellerinnen im Augenblick erdacht worden seien, so durchweht auch Winter 2 eine ähnlich spielerische Mühelosigkeit. Musik und Text vereinen sich in einem impressionistischen Unterfangen, ein wärmendes Licht tanzt verliebt auf der Oberfläche, und macht Winter 2 zu unserer Frühlingsplatte.

— ☃ ☃ —

Winter 2 wurde 2020 in Hamburg von Maximilian Wittwer und Christoph Romahn gegründet; für Auftritte verstärkt um Gäste. Das Album unter selbem Namen auf italic ist ihr Debut.

(1) Sinn der Absurdität (2) Kaputt (3) ebd. (4) Meine Antwort (5) Glanz der Passagen (6) Er trifft die jungen Kerle (7) vgl. (5) (8) Das grüne Leuchten am Horizont (9) vgl. (2) (10) Im Garten der Pfade, das Stück, ... (11) ... Italo Disco das Land ... (12) ... und italic das Label. Natürlich! (13) Diederichsen, Hebdige, Marx (eds.): Schocker, Reinbek bei Hamburg, 1983 (14) ... sagt Maximilian Wittwer.

(Februar 2021)

 


Niklas Wandt — Balearische Bibliothek (italic ITA116)


Ich streife durch die Regale, Zedernholz, von Sonne durchflutet, Thymian und Rosmarin, folge meinem Schatten, greife links, greife rechts, greife heraus, vor mir tanzt ein Staubwedel in Pastelbunt.

Herzlich Willkommen in der Balearischen Bibliothek!
In einem entspannten Groove öffnen sich Türen. Wir sind in New York, circa 1981. Der Drumcomputer hängt sich an den Schlagzeuger dran, die Synthesizer ziehen willenlos mit, wie könnten sie anders, der ganze Raum schwingt. Alles scheint möglich, glitzernde Kugeln drehen sich, und Discothèque heisst Plattenbibliothek. Wir sind in Brescia, circa zur selben Zeit. Alles scheint möglich. Selbst das Batikhemd und die Flöte — umgeschnallt, auf den Rücken gerutscht. Teppiche gleiten von feuchten Tischen, und Discothèque heisst Plattenbibliothek. Wir sind in Düsseldorf oder Berlin. Ungefähr 2021, eine einsame Gaststätte lockt uns, die Stimme erklärt etwas, ist uns Fernsehprogramm, wir ziehen willenlos mit, wie könnten wir anders — entlassen dann in die Natur. Ein plätscherndes Tropfen, Mairegen, ein Fisch taucht nach einer Fliege, Vögel schlagen an, der Rhythmus zieht an, ein E-Piano treibt uns voran, die Stimme kehrt zurück, die Türen schliessen sich, Zedernholz duftet, von Sonne durchflutet, Thymian und Rosmarin, und für einen ewigen Moment scheint alles möglich in der Balearischen Bibliothek.

Balearische Bibliothek ist Niklas Wandts erste Veröffentlichung auf italic. Eine EP mit vier Stücken — und nach Erdtöne (Kryptox, 2020) erst seine zweite Soloveröffentlichung unter eigenem Namen. Auch er hat im Düsseldorfer Salon Des Amateurs gelernt, baut seine Stücke auf amerikanischem Elektro und italienischem Cosmic auf — in BPM Zahlen aus dem unteren Mittel; und wo er etwas braucht, greift er zu: angstlos selbst bei Goa, Fusion, Radiostimme oder Krautrockelektronik der sogenannten Berliner Schule; nur: Wandt sitzt hinter den Instrumenten, wenn er einen Sample nutzt, dann auf der Mikroebene, um sich daraus ein Instrument zu bauen. Die Bibliothek ist kein verwinkeltes Collagenwerk, sondern eine geschmeidige Architektur der Anmutung.

Niklas Wandt ist kein Unbekannter. Er ist gefragt in der jüngeren Rheinischen Szene, vor allem als Schlagzeuger und Perkussionist. Zuletzt hat er mit Jan Schulte/Wolf Müller zwei Alben auf Growing Bin veröffentlicht und in 2019 und 2020 je eine EP mit Sascha Funke. Er hat bei Stabil Elite gespielt, und arbeitet aktuell mit Neuzeitliche Bodenbeläge und Transport. Daneben moderiert er die Sendung Jazz & World für den Westdeutschen Rundfunk. Niklas Wandt lebt heute in Berlin.

(Februar 2021)

 

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